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Und 80 Jahre danach?

Wir stießen auf die Massengräber am Stadtrand in den Wäldern von Rumbula und Bikernieki.

Alles vergessene verlorene Orte, wo keine Zeichen daran erinnerten, dass hier vor allem Zehntausende jüdische Menschen erschossen worden waren. 


In der Reihe „Und 80 Jahre danach?“ fragen wir Menschen, was sie heute mit dem 22. Juni 1941 verbinden. Winfried Nachtwei ist seit über 30 Jahren friedenspolitisch aktiv. Er setzt sich unter anderem für das Gedenken an die Jüdinnen und Juden ein, die nach Riga deportiert und dort ermordet wurden. Diese Deportationen begannen im Winter 1941 – also vor genau 80 Jahren.


Welche persönliche Geschichte /welches Erlebnis verbindet Sie heute mit dem Krieg gegen die Sowjetunion?


Seit 1989 habe ich im Baltikum, in Deutschland und anderen Ländern viele Dutzende jüdische Menschen persönlich kennengelernt, die in Osteuropa seit Kriegsbeginn von den Nazis eingesperrt und gequält, die aus „dem Reich“ nach Osteuropa deportiert und deren meisten Familienangehörige dort ermordet worden waren. Unter deutscher Besatzung erlebten sie Grausamkeiten, die wir uns kaum vorstellen können. 50 Jahre nach Kriegsende war ich für viele von ihnen der erste Deutsche, dem sie von ihren Jahren im Ghetto und KZ berichten konnten. Zwischen alten Ghettoüberlebenden und jüngeren Deutschen entstanden herzliche Freundschaften.  


Wo nahm Ihr Engagement den Anfang und was bedeutet es heute für Sie?


Bei einer Begegnungsreise in das noch sowjetische Belarus stieß ich erstmalig auf die Spuren des deutschen Vernichtungskrieges in der Sowjetunion, die zahllosen mit ihrer Bevölkerung niedergebrannten Dörfer. Als meine Frau und ich 1989 erstmalig die schöne Hansestadt Riga, die Hauptstadt Lettlands besuchten, entdeckten wir die noch weitgehend erhaltenen Häuser des „Reichsjudenghettos“, in dem ab Dezember 1941 über 20 000 jüdische Menschen aus Deutschland und Österreich zusammengepfercht wurden waren. Wir stießen auf die Massengräber am Stadtrand in den Wäldern von Rumbula und Bikernieki, alles vergessene verlorene Orte, wo keine Zeichen daran erinnerten, dass hier vor allem Zehntausende jüdische Menschen erschossen worden waren.

Am 12. Dezember 1989 berichtete ich in Münster erstmalig in einem Dia-Vortrag über die „Nachbarn von nebenan – verschollen in Riga“, 48 Jahre nach ihrem Abtransport aus Münster, Osnabrück und Bielefeld. Darüber kamen Steine der Erinnerung ins Rollen: Kontakte zu deutschen, lettischen und österreichischen Ghetto-Überlebenden entstanden. 1991 wurde erstmalig bundesweit bei vielen Veranstaltungen an die Deportationen vor 50 Jahren erinnert. 1993 wurde bekannt, dass ehemalige Angehörige der lettischen Waffen-SS aus Deutschland eine Kriegsversehrtenrente erhielten, die oft verarmten Überlebenden von Ghetto und KZ aber nichts an „Entschädigung“ bekamen. Engagierte Menschen in einigen deutschen Städten organisierten Soforthilfen für die Ghetto-Überlebenden in Lettland, machten zusammen mit aufgeschlossenen Bundestagsabgeordneten Druck für eine würdige Entschädigung, die wir 1998 schließlich erreichten.                               

Mit dem deutsch-lettischen Kriegsgräberabkommen von 1996 übernahm der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge auch die Gestaltung und Pflege der Gräber von Deportierten. Im Mai 2000 schlossen sich 13 Herkunftsorte der Riga-Deportationen mit Unterstützung des Volksbundes zum Deutschen Riga Komitee zusammen, um die Errichtung einer würdigen Gedenkstätte im Wald von Bikernieki, wo über 35 000 Menschen ermordet worden waren, zu ermöglichen. Am 30. November 2001, vor genau 20 Jahren wurde die Gedenkstätte eingeweiht. Seitdem begleite und unterstütze ich das Riga Komitee – vor allem mit Informationsarbeit und Vorträgen. Heute gehören über 60 Städte zum Netzwerk des Riga-Komitees.      

Die Erinnerungsarbeit seit 1988, die menschlichen Begegnungen  mit ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlingen, die Konfrontation mit Vollstreckern und Wegbereitern der zahllosen Massenmorde im Osten – das alles wurde zum entscheidenden Motivationsgrund meiner friedens- und sicherheitspolitischen Arbeit in den letzten 30 Jahren.


Welche Botschaft möchten Sie für die Zukunft weitergeben?


Der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion im Baltikum, in Belarus, der Ukraine, Russland zeigt, zu welch extremer, dabei hochprofessioneller  Unmenschlichkeit Staaten und Menschen in der Lage sind, wenn politische Systeme von menschenrechtsfeindlichen Ideologien durchdrungen sind und beträchtliche Teile der Bevölkerung mitmachen, wegsehen.
Dass Nachbarn von nebenan im Stich gelassen, verschleppt und ermordet wurden, lässt sich nicht „wiedergutmachen“. Aber es ist eine Sache des mitmenschlichen Anstandes, wenigstens die Erinnerung an diese Menschen wachzuhalten.
Gedenkveranstaltungen für die Opfer der Nazi-Verbrechen münden regelmäßig in das Gelöbnis  „Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz!“ Damit der richtige Aufruf aber nicht in einen folgenlosen Appell versandet, ist seine Konkretisierung unabdingbar:
- Die Verpflichtung der Staaten und Gesellschaften auf die universellen Menschenrechte und das Völkerrecht;
- „Nie mehr allein!“ und „Nie mehr wehrlos!“ ist die Schlüsselerfahrung der von Nazi-Deutschland überfallenen Länder, also gemeinsame und kollektive Sicherheit! Europäische Integration!
- In den 1930er Jahren gab es etliche hellsichtige Warner vor dem Kriegskurs des deutschen Nazi-Regimes, aber zu viel Wunschdenken und Wegsehen gegenüber dem, was sich zusammenbraute. Nüchterne Krisenfrüherkennung ist die erste Voraussetzung für eine Friedens- und Sicherheitspolitik, die vorbeugend Kriegs- und Massengewalt verhindern und Frieden sichern soll. Und die braucht mehr an Fähigkeiten und Fachleuten.

Winfried Nachtwei, Münster, Mitglied des Bundestages 1994-2009, Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention der Bundesregierung, im Vorstand von „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, www.nachtwei.de