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Kann man gerecht gedenken? Erinnern an Verschleppung und Vernichtung in Europa
Eindrücke von einer Gedenkreise nach Riga
Das Programm der gut dreitägigen Gedenkreise ist voll und beeindruckend. Die Reise beginnt mit einem Empfang durch seine Exzellenz Rolf Schütte, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Lettland. Neben Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Delegation und der integrierten trinationalen Jugendbegegnung sind etliche Gäste aus Lettland eingeladen. Die deutsche Botschaft in Lettland sorgt mit einem schönen Abend für einen gelungenen Auftakt der Veranstaltung.
Schwarze Trauerbändchen an lettischen Fahnen
Am nächsten Morgen führt der Münsteraner Historiker Matthias M. Ester durch die Moskauer Vorstadt von Riga, in der die nationalsozialistische Besatzungsmacht ein Ghetto errichtet hatte, um zuerst die einheimischen lettischen und kurz darauf die aus Deutschland deportierten Juden zu internieren. Die schwarzen Trauerbändchen an den lettischen Nationalfahnen weisen auf den nationalen Holocaustgedenktag hin. Sonst lässt fast nichts mehr auf den Terror und die Tragödien schließen, die hier geschahen. An einen Bauzaun hat jemand „Bielefelder Straße“ gesprüht. Dieser Hinweis verdeutlicht, dass Straßen im ehemaligen „Reichsjudenghetto“ nach den Städten benannt wurden, aus denen die Züge mit den deportierten Menschen losfuhren, die dann hier eingepfercht wurden.
Das Essen war in den Töpfen gefroren
Matthias M. Ester liest aus den Erinnerungen von Irmgard Ohl, einer damals jungen Frau aus Osnabrück, die Mitte Dezember 1941 nach Riga verschleppt wurde. Sie beschrieb eindrücklich, was sie im Ghetto vorgefunden hat, nachdem die lettischen Juden innerhalb einer Woche ermordet worden waren, um den deutschen Juden Platz zu machen … Müll, Chaos, zubereitetes Essen, das in den Kochtöpfen bereits gefroren war. Scheinbar, so folgerte sie, wären die Menschen überstürzt verschwunden.
Auch heute, so viele Jahre später ist die Atmosphäre in der Moskauer Vorstand beklemmend. Vorhänge werden beiseitegeschoben, dann rasch wieder zugezogen. Heute leben viele ärmere Menschen in der Moskauer Vorstadt: ein sozialer Brennpunkt mit hoher Arbeitslosenquote.
Auf dem alten jüdischen Friedhof findet man nur vereinzelt noch Reste von Grabsteinen und das auch nur, wenn man sehr genau hinsieht. Die vor einigen Jahren aufgestellten steinernen Thorarollen weisen darauf hin, dass hier der Eingang zum einstigen jüdischen Friedhof war. Die Delegation legte Blumen nieder.
Offizielles Gedenken am nationalen Holocaust-Gedenktag
Um zwölf Uhr findet die offizielle Gedenkveranstaltung anlässlich des lettischen Holocaust-Gedenktages an der Ruine der Großen Choral Synagoge in Riga statt. 1941 wurden hier am 4. Juli jüdische Männer, Frauen und Kinder grausam ermordet. Sie waren in die Synagoge eingeschlossen worden, anschließend wurde die Synagoge in Brand gesetzt. Dieser Massenmord, begangen durch lettische Kollaborateure, ermöglicht durch die beginnende nationalsozialistische Besatzung, war nach den Schikanen und Repressalien der Auftakt zu einer hemmungslosen Vernichtung.
Mahnende Gedenkworte sprechen die lettische Parlamentspräsidentin Inara Murniece von der Nationalen Allianz, Vertreter des diplomatischen Corps, die Botschafterin Israels, der Holocaust-Überlebende und Geschichtsprofessor Margers Vestermanis und für das Riga-Komitee Michael Fürst, zugleich Vertreter des Zentralrates der Juden. Ein Rabbiner spricht das Totengebet. Neben der Ruine der Synagoge steht das Denkmal für die „Judenretter“, lettische Menschen, die in den dreieinhalb Jahren der nationalsozialistischen Terrorherrschaft Juden beschützt und gerettet haben. Die weißen Säulen, die sich gegen eine erdrückende Wand auflehnen, symbolisieren den Widerstand. Der prominenteste von ihnen, der Hafenarbeiter Žanis Lipke , baute einen Erdbunker, in dem er zwischen 1941 und 1944 fast 50 Juden nach und nach verstecken und ihnen so Zuflucht gewähren konnte.
Die nächste Station ist die Gräber- und Gedenkstätte Bikernieki, eine der Erschießungsstätten in den Wäldern um Riga. Der Aufschrei des Hiob: „Ach Erde, bedecke mein Blut nicht und mein Schreien finde keine Ruhestatt“ ist auf schwarzen Stein gemeißelt. Für das Unaussprechliche, das hier geschah, finden sich kaum passendere Worte. Die Felder eng aneinander stehender Granitsteine symbolisieren die zusammengekauerten Menschen vor ihrer Ermordung. Auf mehr als 50 polierten Granitsteinen stehen die Namen der Städte, aus denen die Menschen deportiert wurden: Berlin, Bielefeld, Bremen, Dortmund, Hamburg, Hannover, Kassel… um nur einige zu nennen. Vertreterinnen und Vertreter der Delegation legen einen Kranz nieder. Offizielle Delegationen [europäischer Botschaften] und viele lettische Gäste nehmen ebenfalls an dieser stillen Zeremonie teil. Die geplante Führung durch den Wald von Bikernieki, die den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein individuelles Erfahren und Gedenken ermöglichen soll, wird durch strömenden Regen verhindert.
Namen gewinnen eine Gestalt
Im Museum „Juden in Lettland“ erläutert Direktor Ilya Lensky einige der Exponate. So klein das Museum ist, so beeindruckend sind die Bilder und Ausstellungsstücke.
Zwei Wiener Schüler erzählen von ihrem Rechercheprojekt. Sie haben sich auf die Suche begeben: nach Robert Susak und Oskar Hirsch, zwei Schülern ihrer Schule, die [wann?] von Wien nach Riga deportiert und dort ermordet wurden. Sie waren bei diesem Projekt von ihrer Schule unterstützt worden und durften im Schularchiv recherchieren. Als das Rechercheprojekt abgeschlossen war, hatten Robert und Oskar für die Schüler Gestalt angenommen. Zu den Namen gehören jetzt Menschen. Um an sie zu gedenken, sammelten die Schüler Steine vom Schulweg der beiden jüdischen Jungen und legten sie auf die Gedenksteine in Bikernieki.
Anschließend präsentiert Gita Umanovska, Geschäftsführerin des Rates der Jüdischen Gemeinden Lettlands, das Projekt „Sicherung von Tagebuchfragmenten von Opfern des Holocaust und des II. Weltkrieges in Lettland“. Jeder kenne Anne Frank und ihr berühmtes Tagebuch, aber noch viel mehr junge Frauen haben Tagebuch geschrieben, erklärte Gita Umanovska. „Ich bin kein romantischer Mensch“, erklärte sie, „aber diese Tagebücher rühren mich sehr“.
Ein Mädchen und zwei Jungen von der integrierten deutsch-lettisch-österreichischen Jugendbegegnung lesen aus den Tagebuchfragmenten vor. Die vorgelesenen Texte gewähren Einblicke in die Gedankenwelt der jungen Mädchen, die ihren baldigen Tod ahnen und gleichzeitig versuchen, mit ihrer Verzweiflung umzugehen. Das Publikum lauscht, die Betroffenheit ist fast zu greifen.
Junge Hauptstadt mit wechselvoller Geschichte
Der Mittwoch, der letzte Tag der Gedenkreise beginnt mit einem Einführungsvortrag in der Rigaer Lettischen Gesellschaft. Matthias M. Ester informiert über die Geschichte Rigas und ihre spezielle Erinnerungslandschaft. Riga ist eine europäische Stadt mit einer wechselvollen Geschichte, in der eine multikulturelle Gesellschaft lebt. Lettland ist ein sehr junges Land, gegründet 1918, 1940 wurde es von der Sowjetunion okkupiert, 1941 von den deutschen Truppen eingenommen und dann wieder von der Sowjetunion. Mit der „Sowjetisierung“ ab 1944 wurde die Geschichtsschreibung definiert und vorgeschrieben. 1989 – 1991 erkämpfte und erlangte Lettland die Souveränität. Berühmt wurde die ca. 650 Kilometer lange Menschenkette, die die Hauptstädte der drei baltischen Staaten verband und an der knapp zwei Millionen Menschen teilnahmen.
Inzwischen haben sich die Bevölkerungsanteile in Lettland allerdings verschoben. Während 1935 ca. 60 % der Bevölkerung in Riga ethnisch-lettischen Ursprungs war und der Anteil der Russen keine 10 % betrug, so hält heute der russische Bevölkerungsanteil und der ethnisch-lettische Anteil in Riga die Waage, während in Lettland insgesamt das Verhältnis zwei Drittel zu ein Viertel zugunsten der ethnisch-lettischen Bevölkerung beträgt
Seit einigen Jahren hat Riga einen russisch-stämmigen Bürgermeister. Wie geht die kleine, selbstbewusste Nation mit ihren „Minderheiten“ um? Wie sieht ihre Erinnerungskultur aus? Beide Punkte boten Stoff für nicht unproblematische Diskussionen beim Beitritt Lettlands in die Europäische Gemeinschaft.
Besuch bei Milda, der lettischen Freiheitsstatue
Zu einem offiziellen Besuch von Lettland gehört der Besuch des Freiheitsdenkmals, das die nationale Souveränität Lettlands darstellt. Es wurde 1935 aufgestellt – am gleichen Platz hatte zuvor ein Reiterdenkmal Peter des Großen gestanden. Das Denkmal selbst ist bemerkenswert. Im Sockel werden symbolische Figuren dargestellt: die Wächter des Vaterlandes, die Mutter der Familie, ein Bärenbezwinger, Figuren, die ihre Ketten zerreißen, die Kultur und die Wissenschaft. Hoch oben auf dem Obelisken steht eine kupferne Frauenfigur und hält über ihren Kopf drei Sterne, die für die kulturhistorischen Regionen Lettlands stehen: Kurland, Livland, Lettgallen. Sehenswert ist hier auch die Wachablösung der Ehrenwache vor dem Freiheitsdenkmal.
„Diese Umarmung war nicht so harmlos…“
Nach einer kurzen Erkundung der Altstadt trifft die Delegation auf Margers Vestermanis. Der 92-jährige Holocaust-Überlebende und Professor der Geschichte knüpft dort an, wo das offizielle Gedenken am 4. Juli abschloss: „Die Umarmung einer Politikerin der lettischen Nationalpartei ist nicht so harmlos, wie Sie glauben. Diese Partei hat nie sehr viel Verständnis für die Probleme der Juden gehabt.“
Margers Vestermanis erläutert daran anknüpfend das Geschichtsverständnis und auch die Erinnerungskultur in Lettland. Es sei bemerkenswert, dass die lettische Parlamentspräsidentin auch eine lettische Beteiligung am Holocaust eingeräumt habe, aber nach wie vor würden keine Namen genannt. Die Letten würden sich zu allererst als Opfer der Sowjetherrschaft fühlen und nicht als Opfer der Nationalsozialisten. Die lettische Schuld sei kaum ein Thema, so Vestermanis und erklärt weiter, dass es im offiziellen Geschichtsverständnis der Sowjetunion keinen Platz für den Holocaust gegeben habe. Es durfte nicht sein, dass eine Volksgruppe mehr als andere gelitten habe. Alle seien Opfer des Faschismus. Deshalb durfte auf den Gräbern auch nicht stehen, dass die Toten jüdische Zivilisten waren. Das Verhältnis sei immer noch schwierig, so Vestermanis und erklärte es mit einer Metapher bzw. einem russischen Sprichwort, wenn einer die Arme zwar offen, aber in der Achselhöhle doch noch einen Stein habe.
Hinter diesem Tor stöhnt die Erde
Einen nachdrücklichen Abschluss der Fahrt bildeten die letzten Stationen zu Tat- und Gedenkorten.
Der Bahnhof Skiratova steht für die Deportationen in beide Richtungen: aus dem ehemaligen deutschen Reichsgebiet nach Riga und sowohl vorher als auch später von Riga aus Richtung Osten, nach Sibirien.
Im ehemaligen Konzentrationslager Jungfernhof erinnern nur ein paar wenige Ruinen mit Einschusslöchern an das, was dort geschah. Von 4.000 jüdischen Insassen überlebten 148. Heute ist hier ein Naherholungsgebiet mit Angelteich, Springbrunnen und Fahrradweg angelegt.
„Hinter diesem Tor stöhnt die Erde“
Die aus sowjetischer Zeit stammende Gedenkstätte des einstigen Lagers Salaspils wurde 1966/67 errichtet. Von 1941 bis 1944 waren dort schätzungsweise 12.000 Menschen interniert. Genaue Zahlen können kaum recherchiert werden. „Hinter diesem Tor stöhnt die Erde“ wäre die deutsche Übersetzung der Inschrift auf der massiven Betonwand vor dem Eingang. Heute beeindruckt die Gedenkstätte durch die gigantischen symbolischen Steinfiguren und durch einen schwarzen Gedenkstein, in dem ein Metronom schlägt. Das rhythmische Schlagen ist über den ganzen Platz zu hören und erinnert an einen Herzschlag. Hier waren unter anderem auch über 1000 Kinder und Jugendliche als sogenannte „Bandenkinder“ inhaftiert. Der Gedenkstein ist von Heckenrosen umsäumt, Besucherinnen und Besucher legen kleine Spielsachen darauf.
Im Wald von Rumbula wurden am 30. November und am ersten Dezemberwochenende des Jahres 1941 ca. 27.500 Menschen, die einheimische jüdische Bevölkerung Rigas, ermordet. Auf dem zentralen Gedenkplatz steht eine Menorah und Granitsteine mit den Namen der getöteten Familien. Zur Delegation gehören auch zwei Angehörige, Enkel bzw. Neffen von in Riga ermordeten Juden. Kerzen werden angezündet, Blumen niedergelegt. Hier wird der Toten gedacht. Zumindest gibt es einen Ort für die Trauer. Die Toten haben Namen. Was aber bleibt, ist Fassungslosigkeit. Immer noch und immer wieder.