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Erinnerungen von Herman D. Neudorf

Erinnerungen von Herman D. Neudorf

Die lebensgeschichtlichen Erinnerungen von Herman Neudorf: Das war Riga ...

Bis zum 28 Oktober 1938 lebte Herman Neudorf mit seinen Eltern an der Markenstraße 19 in Gelsenkirchen-Horst. Die Nazis holten ihn an diesem Tag aus dem Schulunterricht, verschleppten ihn und seine Mutter in das polnische Grenzgebiet. Im Juli 1940 "durfte" Herman Neudorf nach Deutschland zurückkehren. Seine Mutter war zwischenzeitlich aus der Wohnung an der Markenstraße in eines der so genannten Gelsenkirchener "Judenhäuser" an der Markenstraße 29 eingewiesen worden, Mutter und Sohn mußten dort in einem Raum leben. Sein Vater Simon Neudorf wurde nach dem deutschen Überfall auf Polen in das KZ Sachsenhausen verschleppt und dort am 14. März 1941 ermordet.

Am 27. Januar 1942 wurde Herman Neudorf mit seiner Mutter zunächst in das Ghetto Riga deportiert. Frieda Neudorf wurde bei Auflösung des KZ Kaiserwald (Riga) am 28. Juli 1944 erschossen. Hermans weiterer Leidensweg führt in das KZ Kaiserwald in Riga, über das KZ Stutthof in das KZ Buchenwald. Von dort in das KZ-Außenlager von Buchenwald beim Bochumer Verein und wieder zurück nach Buchenwald.

Schließlich wird Herman am 13. April 1945 auf einem der Todesmärsche von Buchenwald von US-Truppen befreit. Heute lebt er unter dem Namen Herman Neudorf in den USA. In einer Email an GELSENZENTRUM e.V. schrieb Herman Neudorf im August 2007: "Oft wundert man sich selbst, dass man diese schrecklichen Jahre überhaupt überleben konnte."

Ausweisung der polnischen Juden

"Am 28. Oktober 1938, grade 13 Jahre alt, wurde ich von der Gestapo während der Schulstunde aus dem Unterricht herausgeholt und in das Gefängnis Gelsenkirchen gesteckt. Dort traf ich meine Mutter. Von dort wurden wir nach Polen geschickt. Wir hatten überhaupt nichts bei uns, meine Mutter war auf dem Weg zum Markt festgenommen worden. Außer ihrer Handtasche hatte sie nichts bei sich. Meinem Vater war berichtet worden, daß sie nur die Männer festnehmen würden - er hatte einen Telefonanruf aus Essen bekommen. Ihm war gesagt worden, daß sie nur polnisch-jüdische Männer festnehmen würden, aber die Frauen zurückließen. Deswegen war er zum Polnischen Konsulat nach Düsseldorf gefahren, um Papiere zu besorgen. Weil er verschwunden war, wurden wir festgenommen. Als er zurück kam, waren wir schon an die deutsch-polnische Grenze geschafft worden.

Die Deutschen hatten uns herausgeworfen, und die Polen wollten uns nicht hereinlassen. Es war Ende Oktober, es war kalt, und wir hatten nichts - keine Decken keine Mäntel - gar nichts. Wir kampierten in Schulen, lagen auf Stroh, es gab dort überhaupt nichts, aber ein Telefon. So konnten wir unsere Verwandten in Polen anrufen - Großvater, Großmutter und Tanten. Wir konnten ihnen erzählen, wo wir waren. Sie schickten uns Geld für eine Bahnfahrt, um zu ihnen zu kommen. Unsere Verwandten nahmen uns zunächst einmal auf. Wir hatten Kontakt mit dem Vater aufgenommen und gegen Ende des Jahres kam er uns in Polen besuchen. Seine Mutter war aus natürlichen Gründen verstorben. Wir gingen zu der Beerdigung und wir waren alle wieder zusammen.

Dann bekam mein Vater aber die Genehmigung, zusammen mit meiner Mutter nach Deutschland zurückzugehen, um das Geschäft abzugeben, weil ja in der Zwischenzeit die Kristallnacht stattgefunden hatte. Ich denke, es war Februar 1939. Allerdings war da nicht mehr viel übrig, alles war zerstört. So ging er zurück, um das Geschäft endgültig zu liquidieren, und wir dachten, daß wir danach auswandern könnten. Die Schwierigkeit zu emigrieren und insbesondere in die USA zu emigrieren bestand darin, daß wir unter die polnische Quote fielen, und diese polnische Quote gab uns keine Chance, vor 1943 oder 1944 in die USA einzuwandern. Wir wären auch überall sonst hingegangen, aber es ging nicht. So hatten wir keine Möglichkeit, irgendwohin zu entkommen."

Kriegsbeginn

"Am 1. September brach der Krieg aus. Ich war in Lodz, mein Vater und meine Mutter waren in Deutschland. Am 2. oder 3. September wurde mein Vater als feindlicher Ausländer verhaftet. Man brachte ihn in das Konzentrationslager Sachsenhausen, nahe Berlin. So war meine Mutter alleine in Deutschland und ich war in Lodz. Wie ich mich erinnere, marschierten die Deutschen am 8. September in Lodz ein. Von da an veränderte sich alles dramatisch. Nun waren die Juden Freiwild. Sie wurden aufgegriffen, auf Lastwagen geladen und von einer Stunde auf die andere wussten die Menschen nicht, was aus ihren Ehemännern, Vätern und Söhnen wurde ... Juden wurden geschlagen oder vertrieben. Manche Polen freuten sich, Stellungen von Juden zu übernehmen. Juden konnten behandelt werden wie man wollte. Das war aber erst der Anfang. 

1940, ich denke, es war im Januar, begannen die Deutschen damit, das erste Ghetto aufzubauen. Das war in Lodz. In dieser Zeit änderte sich der Name von Lodz in Litzmannstadt. Ich schaffte es, aus dem Ghetto herauszukommen, genau in der Woche, als sie das Ghetto endgültig absperrten. Meine Tante und ihr Mann nahmen mich auf.

Mit Pferd und Wagen und mit einigen anderen zusammen fuhren wir in einen Ort namens Konskie. Das war auf dem Land, dort war es nicht so hektisch wie in der Stadt. Dort gab es noch kein Ghetto. Ich blieb dort bis Juni 1940.

"In der Zwischenzeit hatte meine Mutter sich bemüht, bei der Gestapo eine Genehmigung dafür zu kriegen, daß ihr einziger Sohn zurückkommen könnte. Ich weiß nicht warum, und ich kenne auch keinen anderen Fall, aber sie gaben die Erlaubnis, daß ich von Polen zurück nach Deutschland kommen und mit ihr wieder zusammen gebracht werden konnte.

Mit anderen Worten: In Lodz hatten wir schon den Gelben Stern auf der Kleidung vorne und hinten. In Polen hatten wir ein weißes Band um den Arm mit einem blauen Stern darauf, und nun erlauben Sie mir, mit einem deutschen Zug zu fahren. Bis heute hört sich das unglaublich an: Ein jüdischer Junge durfte mit den deutschen Truppen aus Polen nach Deutschland zurück fahren."

"Und ich kam im Juni 1940 zurück nach Deutschland. Nach der "Kristallnacht" war meine Mutter aus unserer Wohnung an der Markenstrasse 19 in ein Judenhaus an der Markenstrasse 29 gebracht worden. Dort lebte ich nun mit meiner Mutter in einem Raum. Wir mussten zunächst noch keinen Stern tragen, konnten uns frei bewegen und zur Arbeit gehen.

Ich arbeitete als Tischler bei der Firma Lohmann in Essen-Segeroth. Dort gab es einen Nazi, der mich oftmals quälte. Ab September 1941 mussten dann alle Juden in Deutschland den gelben Stern tragen. Wenn ich mit dem Fahrrad von Horst nach Essen zur Arbeit fuhr, ließ ich extra meine Jacke offen, der Fahrtwind schlug dann die Jacke so um, dass der Stern verdeckt wurde.

Wir bekamen Post von meinem Vater - einmal im Monat konnte er eine Karte aus dem Konzentrationslager schreiben. Wir wußten, daß dort die Hölle war. Als Kind wußte ich aber nicht wirklich, wie schlimm es war. Aber mein Vater schrieb immer, daß es ihm gut gehe. Ich schrieb ihm. Und ich schrieb auch Verwandten, daß er rauskommen würde wenn wir ein Visa von irgendeinem Land bekommen würden."

27. Januar 1942: Deportation nach Riga

"Am 20. Dezember 1941 erhielten wir von der Gestapo, Staatspolizeistelle Gelsenkirchen, die erste Aufforderung: "Sie haben sich auf einen Transport zum Arbeitseinsatz nach dem Osten vorzubereiten. An Gepäck darf 10 RM mitgenommen werden. Die Fahrtkosten sind selbst zu entrichten." Also alles das, was wir nach den Judenpogromen des 9. November 1938 wieder mühsam angeschafft hatten, sollte zurückgelassen und den raubgierigen Nazis preisgegeben werden!

Meine Mutter lag krank danieder. Die Nerven der so schwergeprüften Frau versagten. Es war zuviel, seit dem furchtbaren 9. November... Täglich neue Qualen. über Nacht arm, Hab und Gut zerstört oder geraubt. Bei Ausbruch des Krieges dem Ehemann gewaltsam entrissen. Er war ja Pole und vor allem Jude. Er war ja ein Staatsfeind. Nach wochenlangem Warten auf ein Lebenszeichen kommt ein Gruß. Aus dem KZ Sachsenhausen. Ich war in Polen und erlebte den Überfall der Deutschen. Also, die Frau stand allein. Mann und Kind in weiter Ferne, in den Händen der Mörder.

Nach monatelangem Kampf gelang es, mich, ihr einziges Kind, wiederzubekommen. Die Wiedersehensfreude ließ das Leid ein wenig vergessen. Ende Februar starb Oma, ihre Mutter. Kurz nach der Trauerwoche kam ein Brief von meinem Vater. "Es geht mir gut. Ich bin gesund. Seit stark! Kopf hoch! Auf ein baldiges Wiedersehen." Die Freude war groß, und ich sah meine Mutter nach langer Zeit wieder lachen.

Zwei Tage später, der unvergeßliche 14. März. Kurz nach acht Uhr abends klingelte der Briefträger. Ein Telegramm. Ich nehme es an der Haustür in Empfang. Schnell geöffnet, ich lese, meine Augen weiten sich vor Entsetzen. Ich denke an Mutter. Ich eilte hinauf, trete, kreidebleich in das Zimmer. "Wer war dort?" Ich konnte nicht reden. "Was ist los? Was hast du?" Ich brachte nur ein "Mutter, sei stark" über die Lippen und reichte ihr das Blatt. Da stand, wie im Traum buchstabierte ich: "Ihr Mann ist heute an Lungentuberkulose verstorben. Asche folgt." Und nach diesen furchtbaren Monaten noch Deportierung. Wo soll das enden?

Vorbereitungen wurden getroffen. Medikamente, Frostschutzmittel, Winterkleidung, warme Decken und so weiter beschafft. Am 20. Januar 1942 kommt wieder ein Schreiben: "Sie haben sich zum Transport nach dem Osten in den nächsten drei Tagen bereitzuhalten." Nun ist es soweit. Am 22. Januar um 10 Uhr morgens wurden wir von der Gestapo abgeholt und in einen Autobus verfrachtet, mit je einem Koffer. Im nu sammelte sich um das Auto eine Anzahl Schulkinder. Auf ihre neugierige Frage, wohin wir fahren, antwortete der Gestapo-Chauffeur: "Zur Erholung in ein Sanatorium."

Am Sammelplatz (Ausstellungshalle Wildenbruchstrasse) schliefen wir eine Nacht am Boden und am nächsten Tag wurden wir verladen. Es war der 27. Januar 1942. Aber diese Mörder wußten zu gut, wohin unsere Fahrt führt. Hoher Schnee mit ca. 25 Grad Kälte. Der Zug stand bereit. Ungeheizt. Am Ende des Zuges wurden drei Wagen mit unseren Koffern, Verpflegung und Küchengeräten angehängt. Dann fuhren wir ab. Türen natürlich abgeschlossen. Vor Hannover erfuhren wir, daß die letzten Wagen "heißgelaufen" waren und abgehängt werden mußten. Nun besaßen wir nur noch das, was wir am Leibe trugen. Sechs Tage Fahrt durch Ostpreußen, Litauen, Lettland. Aborte verstopft, die Abteilwände mit einer Eisschicht überzogen. Am 1. Februar erreichten wir unsere neue Heimat.

Der Transport hielt am Bahnhof Riga-Skirotava. Auf uns warteten schon SS-Leute in dicken Pelzmänteln. Sie trieben uns mit Schlägen und Gebrüll aus dem Zug. Die Glieder waren noch starr vor Kälte. Zum Teil mit Autos oder zu Fuß ging es ab. Ungefähr drei Stunden Marsch. Lettische Wachen hüteten uns sorgfältig und rissen einigen gute Kleidungsstücke vom Leibe herunter. Ein mit Stacheldraht umgebener Stadtteil tauchte auf. Personen mit gelben Judensternen konnte ich erkennen. Das war also das Rigaer Ghetto, das uns allen ewig in Erinnerung bleiben sollte. Im Ghetto angekommen, traf ich gleich Bekannte. Juden aus allen Teilen Deutschlands waren schon vor uns angekommen. Transporte aus Köln, Düsseldorf, Bielefeld, Kassel, Hamburg, Frankfurt, Berlin, Wien und Prag.

Zufällig sind meine Verwandten aus Herford und Kassel auch nach Riga gekommen, so daß es ein überherzliches (ich) Wiedersehen gab, getrübt nur durch den Stacheldraht. Dann wurde Quartier gesucht. Zehn Menschen in einem Zimmer. Wohnungen voll mit Ungeziefer. Eine Wanze oder Laus kannte ich nur von der Biologiestunde in der Schule. Gleich am am nächsten Morgen Arbeitseinteilung. 500 Mann zum Hafen. Ich meldete mich sofort freiwillig, in dem Glauben, bei der Arbeit etwas zu Essen zu bekommen. Um sechs Uhr früh stockfinster, 30 Grad Kälte, umgeben von ca. 40 SS-Banditen, so marschierten wir zur Arbeit. Am Hafen warteten zwei Schiffe, beladen mit Strohballen auf uns. Ausladen, gehetzt von SS und Wehrmacht. Feierabend gab es nicht. Um Mitternacht schleppten wir uns gebrochen zurück ins Ghetto, durchfroren und hungrig. Nun wußte ich auch, was hungern war.

Dank der hervorragenden Organisation der jüdischen Ghettoleitung wurde allmählich die Arbeitseinteilung geregelter. Mutter wurde Fürsorgerin der Wiener Gruppe. Sie hatte eine schwere, aber schöne Aufgabe und wurde somit Betreuerin der Wiener Kinder, Kranken und alten Menschen. Meine Tante Else arbeitete von früh bis spät in einem Sägewerk, um so das nötige Brennmaterial beschaffen zu können. Onkel Robert, als tüchtiger Autoschlosser bei der SS bekannt, wurde gleich in den ersten Tagen von seiner Frau und seinen Schwestern getrennt und zu Schlosserarbeiten in SS-Werkstätten herausgeholt und mußte auch dort wohnen. Von meinen Kasseler Verwandten will ich erwähnen, daß Hermann eine gute Stellung als Elektriker hatte und Tante Hedwig für ihren Jungen sorgen konnte.

Ich selbst arbeitete als Tischler, Elektriker und Glaser bei der Wehrmacht und hatte somit Gelegenheit, für das leibliche Wohl zu sorgen. Dazu muß ich nun erläutern. Einige Tage vor unserer Ankunft wurden im Ghetto 20.000 lettische Juden erschossen, um Platz für uns Neue zu schaffen. Eine alte SS-Methode. Wir kamen nun in ihre Wohnungen, wo wir noch Haushaltsgegenstände und Kleidung vorfanden. Um uns nun vor dem Hungertod zu retten, wurde alles, was nicht dringend notwendig war, an die Letten für Nahrungsmittel vertauscht, das heißt, wer Gelegenheit dazu hatte. Auf meiner Arbeitsstelle waren eine Menge russischer Arbeiter und ich wurde ein großer "Handelsmann".

Ich erlernte russisch, ein wenig lettisch und mit allen Kräften stürzte ich mich auf das Geschäft, weil ich wußte, am Abend daheim werden die Lieben sich freuen. Nun kam der Gegenschlag."Auf Tauschhandel steht die Todesstrafe" liest man an jedem Haus. Kameraden wurden erhängt wegen eines halben Pfundes Butter. Strengste Kontrollen beim Tor abends. Es hilft nichts. Zehn werden erhängt und Tausende kämpfen weiter, das Leben ihrer Familien zu erhalten. So ging es nun ein Jahr gut. Dann hörten wir von der herrlichen Niederlage bei Stalingrad und der Massenmord begann."

KZ Kaiserwald, Dezember 1943

"Am 2. September gehen die ersten 3.000 in den Tod, persönlich ausgesucht vom Kommandanten, SS-Obersturmführer Krause und seinem Adjudanten Roschmann aus Graz, sowie dem Unterscharführer Schröder aus Ginnich. Alle Kinder, Kranke und Alte wurden uns genommen. Ein LKW hielt vor dem Spital und die ahnungslosen Kranken wurden wie "Frachtgut" aufgeladen. Nun waren wir noch Wenige. Wir wußten, das Ghetto würde aufgelöst und ein KZ entsteht. So war es. Im schönsten Teil von Riga entstand das furchtbare KZ Kaiserwald. Ich blieb zum Glück mit Mutter zusammen. Tante Else kam in eine Fabrik, mußte dort wohnen mit 3.000 Juden-Menschen. Onkel Robert war noch bei der SS in der Stadt, hatte es einigermaßen. Die Kasselaner wurden zu Reichsbahnarbeiten gebracht, nachdem ihr einziges Kind, der liebe Hans Manfred, der Diphterie erlag. Die unglückliche Tante Hedwig verübte Selbstmord, konnte aber wieder gerettet werden. Tante Rosi erlag der Ruhr. Nun der II. Akt.

Lange, graue Baracken, von hohem zweifachen Stacheldraht umgeben, das war nun meine neue Heimat. Gleich bei der Ankunft wurde ich von Mutter getrennt. Sie kam ins Frauenlager und so konnte ich sie nur noch durch den Zaun sehen. Alle Kleider die wir am Leib trugen, wurden uns abgenommen, wir bekamen Lumpen mit großen weißen Kreuzen auf dem Rücken und der Brust.

Ich sah zum ersten Mal SS-Aufseherinnen. Bestien in Uniform, Stiefel, Pistole und Peitsche, so drangsalierten sie unsere Frauen, schlugen und traten sie. Oh, die herrliche deutsche Frau, die berühmte deutsche Kultur!! Ich kann sagen, die SS-Frauen haben die SS-Männer an Brutalität bei weitem übertroffen.

Mutter wurde sehr krank. Rippenfellentzündung. Ich durfte nicht zu ihr. Auf meinem neuen Arbeitsplatz, einer Wehrmachtautowerkstatt, stahl ich Autobestandteile und verkaufte sie an Zivilisten gegen Essen. Mutter mußte leben. Und Gott half ihr. So leicht sollten es diese Hunde nicht haben. Die liebe Mutter wurde wieder gesund. Oh, wie glücklich war ich, als sie zum ersten Mal wieder durch den Draht sprechen konnte! Und so kam der Sommer und Rußlands Rote Armee marschierte vorwärts, wir hofften und warteten. Kiew, Minsk, Wilna wurden gestürmt. Der Name Lettland wird schon in den deutschen Nachrichten erwähnt. Was wird aus uns? Läßt man uns leben?

Der 27. Juli 1944 brachte die Antwort: Nach dem üblichen Abendapell kommt pötzlich der "Lagerarzt", SS-Sturmbannführer Krebsbach mit einem Stab hoher SS-Offiziere und inspiziert jeden eingehend. Die älteren und schlecht Aussehenden rechts in eine von Wachen gehütete Baracke, die übrigen links auf die Seite. Jeder wußte, rechts der Tod, links vorläufig das Leben. Die Baracke füllte sich. Wir mußten zusehen. Nachdem die Männer durch waren, ging er zu den Frauen. Das gleiche Bild. Die für rechts Bestimmten wurden in einer Kolonne aufgestellt und unter schärfster Bewachung auch in die Baracke geführt. Der unglückliche Zug kam an mir vorbei, es war dunkel, und ich sah, ich traute meinen Augen nicht, meine liebe Mutter war unter ihnen. Ich ging wie im Fieber. Ich glaube, ich habe die ganze Nacht geschrien. Ich weiß es nicht mehr. Im Morgengrauen versuchte ich, an diese Todesbaracke heranzukommen, aber die SS-Posten, die das Gebäude umstellt hatten, trieben mich mit Schlägen zurück.

Vom weiten blieb ich stehen starrte auf die Fenster. Und wirklich, Mutter hatte mich gesehen. Sie fragte mich: "Wohin fahren wir ?" Ich antwortete nur: "Wir sehen uns bald wieder." Worauf sie fragend antwortete: "Im Himmel?" In dem Moment traf mich ein Kolbenschlag eines Wachpostens und ich stürzte davon. Ich habe sie niemals wiedergesehen. Später, als ich dann zum Kommandanten, SS-Sturmbannführer Sauer ging und ihn in meiner Not anflehte, mir meine Mutter zu lassen, antwortete er zynisch, ich könnte ja mitfahren, wenn ich Lust hätte. Gibt es nun in der Welt eine Strafe, die groß genug wäre, um diesen furchtbaren Grausamkeiten gerecht zu werden?

Vom Tag an war ich allein. Im Lager Strasdenhof, wo sich Tante Else befand, wurden alle Personen über 30 auf die gleiche Weise fortgeschafft. Bei der Reichsbahn das gleiche. Von all diesen Unglücklichen hat man bis zum heutigen Tage nichts mehr gehört. Nur haben sich einige dieser SS-Mörder dann später beim Saufgelage über ihre Heldentaten im Rigaer Hochwald gerühmt. Nun wurde auch für uns die Lage kritisch. Erleiden wir das gleiche Schicksal, Mann und Frau??

Am 6. August 1944, nach dem Morgenapell, inzwischen schon kahlgeschoren und in gestreifter Kleidung, wurde das halbe Lager geräumt. Ich war auch unter diesen. Der Weg führte zum Hafen, wo wir auf ein großes Schiff unter Deck eingepfercht wurden. Erst rechneten wir wieder mit einem Schurkenstreich, als dann aber auch SS- und Wehrmachtsoffiziere mitfuhren, fühlten wir uns sicher. Ich will die furchtbaren drei Tage auf diesem Höllenschiff nicht beschreiben. Wenn ich nur erwähne, daß einige vor Durst ohnmächtig geworden sind. Unser Landeplatz war Danzig, und von dort ging es zum KZ Stutthoff. Auch dort waren die Zustände fürchterlich. Aber Gott sei Dank blieben wir dort nur einige Tage und wurden dann zum Arbeitseinsatz nach Deutschland geschickt. Als der Zug hielt, waren wir in Buchenwald, wo ich dann am 13. April 1945 befreit worden bin."

Die Flucht und glückliche Befreiung des Häftlings Nr. 82609 des KZ Buchenwald

Sieben Jahre hat Herman Neudorf in der von den Nazis erdachten Hölle verbracht. Vater, Mutter, Verwandte, Bekannte und Freunde verloren. Nun ist er frei. Die Erinnerungen an diese schrecklichen Zeiten wird Herman D. Neudorf jedoch Zeit seines Lebens gefangen halten.

Am 10. April 1945 wurden 4.000 Häftlinge des KZ Buchenwald von der SS auf einen Todesmarsch geschickt, der von Buchenwald nach Dachau führen sollte. Unter Ihnen befand sich auch Herman Neudorf. Die Menschen wurden schließlich von amerikanischen Soldaten in der Nähe von Jena befreit. Herman Neudorf beschreibt in einem Bericht die Umstände seiner Flucht und die anschließende Befreiung.

Im nachfolgenden Bericht vom 20.4.1945 hat Herman Neudorf seine Erinnerungen an den Todesmarsch aus dem KZ Buchenwald und seine anschließende Befreiung niedergeschrieben.

Buchenwald, den 20. April 1945

Durch das Tor hinein,
durch den Schornstein hinaus
(Wahlspruch der SS)

Dem Tode entronnen.

Die Flucht und glückliche Befreiung des Häftlings Nr. 82609 des Konzentrationslager Buchenwald

Montag, den 9. April 1945, 8 Uhr vormittags

Alarmstimmung herrscht im Lager. Die SS-Banditen zeigen plötzlich fieberhafte Tätigkeit im Kofferpacken. Bereits 10.000 Häftlinge haben das Lager verlassen, begleitet von schwerbewaffneten SS-Wachen. Wohin? Angeblich nach Dachau. Wir ahnten Schreckliches. Diese bis an die Zähne bewaffneten Mordgesellen werden auch diese unschuldigen Menschen "auf Befehl des Führers" umbringen. Wir sind auf all das furchtbare vorbereitet. Sollen wir jetzt in diesem kritischen Moment, wo die Befreier nur wenige Meilen von uns entfernt sind, wo Kameraden der R.A.F. stündlich über uns kreisen, wo wir diese Jahre des Leids und der Grausamkeit glücklich überstanden haben, noch ein Opfer dieser Bestien werden? Wird es den siegreichen alliierten Armeen gelingen, schneller zu sein als die Kugeln dieser Unmenschen, die unserem Leben ein Ende machen wollen? Die Aussichten auf ein Überleben sind sehr schwarz, aber ich gebe die Hoffnung noch nicht auf, vielleicht habe ich einmal ein bischen Glück...

Dienstag, den 10. April 1945, 13 Uhr.

Durch Mikrophon kommt vom Turm am Tor folgender Befehl an die Lagerführung: "Bis 4 Uhr stehen auf dem Appellplatz 4.000 Menschen zum Abtransport bereit". Der Lagerälteste und seine Mitarbeiter waren kopflos, denn sie sind nicht imstande noch mehr ihrer Leidensgefährten den SS-Offizieren auszuliefern. Es ist kein Mensch mehr zu erblicken, verborgen in Keller, Gruben, Kisten, sogar Abortgruben bangt jeder um sein Leben.

Um 15 Uhr ertönt wieder die unheimliche Stimme des Hauptscharführers HOFSCHULTE durch den Lautsprecher: "Wenn der Sauhaufen (damit waren selbstverständlich wir gemeint) nicht innerhalb einer Stunde vor mir steht, werden wir selbst eingreifen." Was dieses "Eingreifen" bedeutet, wusste ein jeder von uns. Und noch einmal raffte sich der Lagerschutz (Polizei) auf, um den furchtbaren Befehl auszuführen. Auch ich wurde aus meinem schönen Versteck aus der Mülltonne hervorgeholt und war einer von den 4.000 Unglücklichen, die nun vor dem Tore standen und mit dem Leben abgeschlossen hatten. Nun besichtigt uns ein "Arzt" auch ein SS-Hund und holte einige halbtote Menschen aus den Reihen und schickte sie ins Lager zurück.

Nun wurden wir von Posten umgeben und der Marsch begann. Kaum waren wir, die ersten 500 aus dem Tor bis an den Bismarkturm gekommen, fing das Morden schon an. Ein polnischer Häftling, ein Jude aus Lodz, brach vor Hunger zusammen, kurz darauf hörte ich einen Schuss, der Unglückliche hatte ausgelitten. Das stand uns allen nun bevor.

Der Weg führte zum Bahnhof. Unaufhörlich brausen amerikanische Tiefflieger über unsere Köpfe in geringer Höhe hinweg. Wir blicken gen Himmel und die Augen aller leuchten auf, aber nur für einen Augenblick, denn dann werden wir durch das Antreiben und Kolbenhiebe der Wachen wieder in die trostlose Wirklichkeit zurückgerufen. Über uns die Befreier, und der Tod schreitet neben uns.

Wir trafen um 8 Uhr abends am Bahnhof Weimar ein. Ein offener Güterzug, angepackt mit Häftlingen, verließ gerade den Bahnhof. Wir setzten uns auf den Boden. Gegen Mitternacht wurden wir aufgetrieben, und ein Zug mit geschlossenen Waggons rollte an. Nun heißt es im Laufschritt einsteigen, immer 100 Mann in einen Waggon. Die Luken waren mit Blech beschlagen und so konnten wir keine frische Luft erwarten. Als der letzte innen war, wurde die Tür zugeschoben und verschlossen. Wir saßen in einem finsteren Loch, abgemagerte und ausgehungerte Gestalten, einer an den anderen gepresst. Sitzen ist übertrieben, denn zum Stehen war kein Platz. Einige Minuten vergehen. Der Zug fährt an. Leises Flüstern. Es stand zur Debatte, wie lange hält ein unterernährter Körper solche Strapazen aus? Bereits 24 Stunden ohne jegliches Essen, keinen Tropfen Wasser, noch nicht einmal eine Gelegenheit, die Notdurft zu verrichten. Wie sollte dieses enden???

Plötzlich werde ich aufmerksam, ein Pole holt aus seinem Ärmel eine Feile hervor, ein Russe aus dem Hosenbein vorsichtig ein Brecheisen, ein anderer hatte sogar an eine kleine Säge gedacht. Wir blicken uns einander an und verstehen uns, ohne ein Wort zu sagen. Entweder weiterfahren und sterben, oder fliehen und das nackte Leben zu retten, und so sind wir alle 100 Männer fest entschlossen, bei Einbruch der Dunkelheit den Sprung in die Freiheit zu wagen. Es ist ungefähr 8 Uhr morgens, den 11. April.

Nun geschah etwas, was über unser Schicksal entscheiden sollte. Wir hören Flugzeuggeräusch, immer stärker kommt es an unser Ohr, Bordwaffen peitschen über unsere Waggons, und ... das Unfassbare ist eingetreten, der Zug steht. Die Lokomotive ist vollkommen zerstört. Bravo, ihr Kameraden der R.A.F., ihr habt ganze Arbeit geleistet. In einigen Minuten ist die Tür aufgebrochen, und wir stürzen ins Freie und sind glücklich, das Tageslicht noch einmal wiederzusehen. Unauffällig voller Jubel strecken wir unsere Hände gen Himmel, den alliierten Fliegern entgegen. Auch Opfer gibt es wieder, denn einige versuchen, bei dieser Gelegenheit zu entfliehen, und werden hinterrücks erschossen.

Von fern dröhnt es dumpf, wir hören die Geschütze unserer Befreier. Nach einigen Stunden warten, nachdem noch mehr SS-Truppen zur Verstärkung herangekommen waren, mussten wir antreten, und abmarschieren, in Richtung Gera und dann weiter nach Dachau. Um 7 Uhr am gleichen Abend passierten wir Jena, von der SS gehetzt. Kurz darauf wurde die Jenaer Brücke gesprengt. Also waren die Alliierten schon ziemlich nahe an uns herangekommen. Nun wird die Wachmannschaft ängstlich. Immer schneller werden wir getrieben, der Schweiß lief in Strömen, und auch unser Schrei nach Wasser wurde von diesen Unmenschen nicht erhört.

Die Füße schwellen an, ich zog meinen Mantel aus und warf ihn in den Straßengraben, um mir das Gehen zu erleichtern, meine Nebenleute taten das selbe. Unaufhörlich schießt es. Die SS war wieder bei ihrer Arbeit, denn wer nicht gehen konnte, oder stehen blieb, um einmal Atem zu schöpfen, bekam eine Kugel, und viele, viele waren erschöpft, und blieben auf der Straße tot liegen. Alle Menschen, die auf der Hauptverkehrsstraße Nr. 7, die von Weimar nach Gera führt, wohnen, sind Zeugen dieser Untaten, denn sie haben die vielen Ermordeten später selbst beerdigen müssen.

Nun wird es wieder dunkel, aber trotzdem bleibt das Tempo das selbe. Ich fühle mich schon sehr schwach, denn es ist schon der zweite Tag, wo weder Wasser noch Brot meine Lippen berührt haben. Immer mehr brechen zusammen, und ebenso häufig krachen die Schüsse. Die ganze Nacht ging es so weiter. Um vier Uhr morgens ist eine Stunde Rast. Nach zwei Tagen und einer Nacht wieder das erste Mal. Ich wanke auf das Gras, und schlief sofort fest. Nachmittags kommen wir in Eisenberg an.

Dort wurden wir auf eine große Weide geführt, und sollten nach langer Zeit wieder "Verpflegung" bekommen. Völlig erschöpft setzten wir uns nieder, und wirklich kam ein Auto mit Proviant angefahren. Aber schnell kam die große Enttäuschung. Im Führersitz sitzt der Lagerkommandant SS-Standartenführer PRIESTER und der Lagerführer SS-Sturmbannführer SCHOBERT und sagten dem Transportführer, einem Obersturmführer das die Portion in einer 7 Kilometer entfernten Fabrik ausgeteilt würde. Daraufhin stiegen sie ein und rollten davon. Nun wurde sofort zum Abmarsch befohlen, und der endlose Leidenszug setzt sich wieder in Bewegung. Nachdem wir schon über 10 Km hinter uns hatten, wurde uns klar, das wir nicht mehr mit einem Bissen zu rechnen hatten.

Es ca. 12 Uhr Mitternacht. Die Stadt Crossen, die wir gerade durchmarschierten, liegt tot und verlassen. Unaufhörlich brausen Autos der "stolzen Wehrmacht" an uns vorbei, in heilloser Flucht. Plötzlich ein schrecklicher Knall, Leuchtraketen stiegen empor, wir standen im grellen Lichte und hörten Panzergerassel. Ein amerikanischer Panzer muss anscheinend unmittelbar hinter uns vorgedrungen sein. Es ist wieder stockfinster. Plötzlich schreit mein Leidensgenosse neben mir: "Ich sehe keine Wachen mehr. Wir sind frei". Und wachte oder träumte ich, es war wirklich niemand von den SS-Banditen mehr zu sehen. Nach langen Jahren endlich wieder frei. Aber noch war nicht alles überstanden. Ich bildete eine Gruppe von 6 Jungens, und liefen so schnell wir konnten, querfeldein den Befreiern entgegen. Plötzlich tauchten vor uns deutsche Soldaten auf. Was nun? Kahlgeschoren und in Häftlingskleidung, mann wird uns gleich erkennen. Nur schnell flach auf die Erde legen und abwarten.

Das waren bange Minuten. Endlich war die Luft wieder rein, und auf allen Vieren ging es über die Autobahn. Nun einmal tief Atem holen. Die Häuser trugen weiße Fahnen, aber kein Mensch wusste, was das zu bedeuten hatte. Auf der nächsten Hauptstrasse gab es ganz etwas Neues für uns. In den Rinnsteinen und Bürgersteigen liegt Keks, Konserven, Cigaretten und kleine Packen mit der Aufschrift "Chewing Gum" Made in USA. Wir hatten es geschafft und alle "Not" überstanden. Wir sind im Schutze der Alliierten, wir sind FREI.

Nach einigen Minuten sehen wir das erste Auto und die ersten Soldaten. Schnell die Häftlingsjacken aus. Auf die Straße gestellt und gewunken. Schon stoppt der Wagen, und als sie unsere Uniform erkannten, gibt es eine überaus herzliche Begrüssung. Uns standen die Tränen in den Augen. Unsere jahrelangen Wünsche, Träume und Hoffnungen haben sich erfüllt. Unsere Nerven waren vollkommen herunter. Am Abend bekammen wir von einem Offiz. ein fürstliches Quartier, ein frisch überzogenes richtiges Bett und schliefen nach endloser Zeit wieder als Menschen.

Ich werde diesen 14. April 1945, den Tag meiner Befreiung nie vergessen.

In glücklichen Stunden geschrieben:

Hermann Naidorf,
geb. 3.6.25 in Gelsenkirchen-Horst

1945: Rückkehr nach Gelsenkirchen-Horst

Anna Chmiel, eine ehemalige Angestellte der Familie Neudorf, konnte nach der Pogromnacht einige wenige Gegenstände aus dem Besitz der Familie auf der Markenstraße aufsammeln und so retten: Einige zerschlagene Bilderrahmen mit den Fotos von Simon und Frieda Neudorf, den Arm eines silbernen Leuchters, einen silbernen Sederteller und Hermans Taufkleid. "Bei meiner Rückkehr nach Gelsenkirchen hat Anna Schmiel mir diese Dinge überreicht, sie hat immer zu uns gehalten. Diese Dinge sind neben meinen Erinnerungen das Einzige, was mir von meinen Eltern geblieben ist. Mein Taufkleid, auf dem meine Mutter einst meinen Namen stickte, haben auch meine drei Söhne und meine Enkel getragen" erzählte uns Herman Neudorf.

Nach seiner Befreiung aus dem KZ Buchenwald kehrte Herman Neudorf 1945 als einziger Überlebender seiner Familie nach Gelsenkirchen-Horst zurück. In der Hyppolitus-Schule fand er Frau Salfeld, die ehemalige Nachbarin aus der Markenstraße 19. Sie hatte dort ein Notquartier. Unaufgefordert war sie sofort bereit, Herman die geraubten Dinge aus der Wohnung seiner Eltern, hauptsächlich Kleidungsstücke, zurückzugeben. Herman Neudorf verschenkte die Kleidungstücke seiner von den Nazis ermordeten Eltern dann an Bedürftige in Horst. "Natürlich beteuerte sie, "von alledem nichts gewußt" zu haben, betonte, wie schwer sie es doch in der NS-Zeit hatte. Auch der Sohn sei gefallen. Sie hatte es bestimmt besonders schwer, als NS-Frauenschaftsführerin und fanatische Anhängerin der Nazis" so Herman Neudorfs ironischer Kommentar in einem Gespräch mit Gelsenzentrum.

"Viele Jahre sind vergangen seit meiner Befreiung aus der Hölle der Lager. Ich kann jedoch immer noch nicht fassen, wie ein scheinbar so kulturelles Volk in die Hände eines Fanatikers fallen konnte und von dem unzählige Mörder entsprangen. Die "Kristallnacht" war das Ergebnis eines Rassenhasses, der einst friedliche Nachbarn in wilde Tiere verwandelte. Mögen wir alle hoffen und wachsam sein, dass solche Untaten nie mehr geschehen...Vergeben muss man, aber vergessen ist unmöglich!" sagt der heute 86jährig in den USA lebende Herman Neudorf.

Yom Hashoa 2003 in Halendale Beach, Florida - Victims of Holocaust mourned

Februar 2008: Zug der Erinnerung

Seit Sonntag Vormittag steht der "Zug der Erinnerung" auf dem Hauptbahnhof in Gelsenkirchen. Zur Eröffnung der Ausstellung schickte der 1938 verschleppte Herman Neudorf Grußworte. Neudorf lebt heute in den USA. In dem Schreiben, das auf dem Hauptbahnhof verlesen wurde, heißt es:

"Am 28. Oktober 1938 kam ein Polizist in meine Schule, das Realgymnasium Horst - und brachte mich in das Gefängnis in Horst. Ich war gerade 13 Jahre alt. Von diesem Tag an war meine Jugend zu Ende! Von dort schleppte man mich nach Polen und dann Riga, in das KZ Stutthof und nach Buchenwald, wo ich dann 1945 befreit wurde. Vergeben muss man - aber Vergessen ist unmöglich. Darum wünsche ich dem 'Zug der Erinnerung' großen Erfolg und danke allen, die unser Schicksal wach halten."

Für die Initiatoren antwortete Rüdiger Minow, Vorstandssprecher des Vereins "Zug der Erinnerung" auf dem Gelsenkirchener Hauptbahnhof:

 

"Werter Herman Neudorf in den USA,

... Es schmerzt, dass die Mörder in der Nachkriegszeit frei herumliefen und sich in Gelsenkirchen, wie anderswo, der Sühne entzogen. Diese Täter haben es jahrzehntelang zu verhindern verstanden, dass an die Deportierten angemessen erinnert wird. Sie haben ihre Taten geleugnet und ihre Verantwortung in Abrede gestellt. Ihr Schweigen, in Gelsenkirchen wie anderswo, verhöhnte die Opfer ein weiteres Mal. Das Schweigen grenzte die Überlebenden aus, die Anspruch auf Zuwendung gehabt hätten. Dasselbe Schweigen nahm uns, den Söhnen, Enkeln und Urenkeln der Täter, die Möglichkeit zu trauern. Die gesamte Nachkriegsgeschichte durchzieht in Gelsenkirchen, wie anderswo, das Fortwirken der Täter. Wir müssen diese Tatsache aussprechen, damit nicht neue Lügen die Runde machen, Lügen und Rechtfertigungen, wonach man doch früh, dauerhaft und intensiv alles getan habe, um sich den NS-Verbrechen zu stellen. Von solchen Rechtfertigungen ist es nur ein kleiner Schritt zum politischen Überdruß: "Genug, wir haben genug getan." Das Gegenteil ist wahr: Wir haben nicht genug getan, wir haben uns weder früh noch dauerhaft und schon gar nicht intensiv der Opfer angenommen. Dies zeigt der ungeheure Zuspruch, den der "Zug der Erinnerung" erfährt, weil dort Trauer, Schmerz und Scham für Zehntausende nach so vielen Jahren einen Platz finden.

Der "Zug der Erinnerung" fährt durch Deutschland, obwohl man ihn finanziell behindert. Er kommt auch dorthin, wo man ihn nicht eingeladen hat. Der "Zug der Erinnerung" ist in Gelsenkirchen der über 90 Kinder und Jugendlichen wegen, die aus Ihrer Stadt stammen und die man in den Tod hat ziehen lassen... Werter Herman Neudorf, das Leid, das man Ihnen in Gelsenkirchen und Deutschland antat, als Sie 13 Jahre alt waren, das Leid, das nach Riga, in das KZ Stutthof und dann nach Buchenwald führte, ist unvergessen..."

Die Lebensgeschichte des Holocaust-Überlebenden Herman Neudorf

Aus dem Privatbesitz von Herman D. Neudorf. Aufgezeichnet 1995 von der "Survivors of the Shoa Visual History Foundation",

Veröffentlichung auf der Internetpräsenz von GELSENZENTRUM mit freundlicher Genehmigung von Herman Neudorf.

Die Schreibweise des Vor- und Zunamens wurde bei der Einwanderung in die USA in Herman Neudorf geändert.

Andreas Jordan, August 2007. Nachträge Dezember 2011

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