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Rolf-Dieter und Eva Eichenwald

Rolf-Dieter und Eva Eichenwald

Rolf-Dieter und Eva Eichenwald hätten die Familie Albersheim in Billerbeck in die vierte Generation geführt. Ihr Urgroßvater, Heimann Albersheim, zog im 19. Jahrhundert von Gemen nach Billerbeck. Er eröffnete hier ein Textilgeschäft. Eines seiner acht Kinder, sein Sohn Joseph (1881-1941), führte das Geschäft in der Langen Straße 13 fort. Er war mit Selma, geborene Isaakson aus Dinslaken verheiratet. Mit im Haus wohnte noch Josephs Schwester Adele. Zusammen mit Josephs Bruder Louis und dessen Familie gehörten sie zur jüdischen Gemeinde in Billerbeck, die 1925 immerhin 35 Personen zählte. 

Die Großeltern Joseph und Selma bekamen drei Kinder: Herbert (1908) wanderte 1938 nach Baltimore in den USA aus; Walter Werner (1912) wanderte 1933 nach Amsterdam und von dort in die USA aus. Die Tochter Ruth (1915) blieb in Billerbeck bei den Eltern. Sie heiratete im Januar 1935 den Textilkaufmann Otto Eichenwald aus Horstmar.

Ruth muss eine sehr lebensfrohe, junge Frau gewesen sein. Mit ihrem lockigen blonden Haar fiel sie unter ihren Altersgenossinnen auf. Eine Klassenkameradin
erzählte uns, sie sei ein sehr fröhliches Mädchen gewesen. Sie war wohl eine gute Schülerin und recht beliebt.

Ihre Cousine Anna Uhlmann (Tochter von Louis Albersheim, lebt heute in den USA) schildert sie so: "Ruth war die jüngste von uns. Sie war 19 Jahre alt, als sie sich in Otto Eichenwald verliebte. Ruth war ein schönes Mädchen. Sie wollte heiraten. Es wäre richtig gewesen, wenn sich Ruth und Otto auf die Emigration vorbereitet hätten. Es war schon 1935 und wir wussten über die Lage in Deutschland Bescheid. Ich erinnere mich, wie ich Ruth dringend bat, die Auswanderung zu erwägen. Onkel Joseph und Tante Selma wollten, dass Ruth und Otto heiraten. Sie dachten, dass Otto das Geschäft übernehmen sollte. Otto seinerseits suchte nach einer Möglichkeit, sich niederzulassen und war glücklich, einziehen zu können und sich um das Geschäft kümmern zu können. Ruth und Otto heirateten. Es war eine kleine Hochzeit im Haus ihrer Eltern. Ihre Flitterwochen verbrachten sie in Berlin. Es war jedoch schon kein Vergnügen mehr. Dann stieg Otto in das Geschäft ein, das noch ein Einkommen abwarf."

In Billerbeck hatte der Judenboykott von 1933 zwar auch seine Wirkung gezeigt, aber noch 1935 musste der Ortsgruppenleiter der NSDAP die Beamten des Amtsbezirks Billerbeck ausdrücklich mahnen, nicht in jüdischen Geschäften zu kaufen. Die finanzielle Lage der Familie Albersheim sollte sich bald deutlich verschlechtern.

Anna Uhlmann erzählt: "Ruth wurde schwanger. Rolf war ein Schatz. Es scheint, dass sie gut zurecht kamen und er bereitete ihnen natürlich große Freude. Eva kam ein Jahr später. Sie war süß und hübsch - doch gab es keine Zukunft. Zu viele Juden erkannten die Zeichen der Zeit nicht, sahen nicht, dass die Zerstörung nahe war." 

Als Rolf-Dieter und Eva geboren wurden, galten die Nürnberger Rassengesetze bereits. Ihr Großvater hatte im Textilhaus inzwischen große finanzielle Sorgen. Eine Chance, das Geschäft der Eltern und Großeltern zum Erfolg zu führen, hatten Rolf und Eva nie. Ihre Mutter versuchte noch mit einigen wohlwollenden Bürgern Billerbecks geschäftliche Kontakte zu pflegen. Nachts, im Dunkeln, schlich sie sich zu den Häusern, brachte Kleidung - man probierte an, wählte aus... So konnte das ein oder andere Geschäft noch getätigt werden. Doch die meisten Billerbecker kauften nicht mehr bei Juden.

Eva war noch nicht ein Jahr alt, da verließ die Familie Billerbeck. Sie hatte dort keine Existenzmöglichkeit mehr. Das Geschäft mussten sie zu den von den Nazis festgelegten Bedingungen verkaufen. Sie waren jedoch glücklich darüber, es einemFreund der Familie, Linus Lammerding sen., verkaufen zu können. Sein Sohn betreibt das Geschäft noch heute am gleichen Ort, sein Enkel war an der Arbeit für dieses Gedenkblatt beteiligt. 

Rolf-Dieter und Eva Eichenwald waren im September 1938 aus Billerbeck verschwunden ohne Spuren zu hinterlassen. Die gleichaltrigen Kinder aus dem Ort sollten sie nie kennenlernen können. Während diese bald in die Kindergärten gingen, in Billerbeck die Schule besuchten, ihrer Zukunft entgegengingen, waren Rolf-Dieter und Eva bereits Verfolgte - einer Zukunft beraubt, ohne dass sie es selbst wissen konnten.

In Krefeld fand die Familie eine neue Bleibe. In beengten Verhältnissen wohnten sie im Haus der mit ihnen bekannten Witwe Henriette Kaufmann in der Dreikönigenstraße 16. Außer der Familie Albersheim/Eichenwald wohnten dort noch zwei jüdische Familien namens Herz. In der Einwohnerkartei ist bei allen die Berufsangabe o.G. (ohne Gewerbe) eingetragen; sie waren also arbeitslos.

Von Krefeld aus hielten sie Kontakt mit ihren Verwandten, sie bekamen den ein oder anderen Besuch und standen in einem regelmäßigen Briefkontakt mir Linus Lammerding in Billerbeck. Zehn dieser Briefe befinden sich noch im Besitz der Familie Lammerding. Der zweite Brief zeigt sehr schön die freundschaftliche Beziehung zwischen den beiden Familien. Er beginnt so:

Mein l. Herr Linus.
Jedesmal, wenn ein Brief von Linus kommt, dann setzt sich die ganze Familie um den Tisch und alle hören gespannt zu, was schreibt er. So ging es auch gestern Nachmittag, als Ihr Briefchen kam. Wir freue uns alle mit Ihnen, dass das Geschäft so gut klappt. ... Für Ihre freundliche Einladung sage ich Ihnen unseren besten Dank. Wir werden doch wohl bald kommen, sobald ese mein Herz nur gestattet. Ich bin immer noch nicht so auf dem Damm, denn es hat mich schwer mitgenommen, ein altes Geschäft, welches ich 35 Jahre führen durfte zu verlassen. Eins hat mich mit dem Schicksal ausgesöhnt, und das ist lb. Linus, dass gerade Sie das Geschäft bekommen haben, denn ich habe Sie in den paar Tagen, die wir nun zusammen waren sehr hoch eingeschätzt und habe gesehen, dass das alte Haus in richtige Hände kommt.

Joseph Albersheim schrieb diesen Brief mit Datum vom 9. November 1938 nicht ahnend, dass sich in dieser sogenannten "Reichskristallnacht" auch in Billerbeck der Mob auf die jüdischen Häuser und Geschäfte stürzen würde. Am Schluss heißt es:

Was gibt es denn Neues in Billerbeck. Hier lebt man so ruhig wie auf einer verschollenen Insel, mit keinem Menschen kommt man in Berührung, da wir hier gar keine Bekannte oder Verwandte haben. Glauben Sie mir, dass ich in diesen 6 Wochen noch nicht einen Schritt in die Stadt gemacht habe? 

Das Haus in der Langen Straße 13 blieb allerdings in der Pogromnacht unversehrt - es war ja jetzt in den Augen der Nazis "arisiert". Am 22. November 1938 besuchte Joseph Albersheim noch einmal Billerbeck und sein ehemaliges Geschäft. Er fuhr nicht allein, wen er aber mitnahm, lässt sich aus dem Dankbrief an Linus Lammerding nicht entnehmen. Linus Lammerding bekam offensichtlich Probleme mit den Nazis, weil er sich auf den Besuch der Albersheims eingelassen hatte, wie aus dem Brief vom 3.12.1938 hervorgeht. Darin erzählte Joseph Albersheim auch davon, dass sie für Februar 1939 die Ausreise in den USA planten. Sie wollten nach Baltimore, wo Ruths Bruder Herbert eine Anstellung in einem Warenhaus gefunden hatte. Um die Auswanderung zu ermöglichen, fuhren Ruth und Otto am 3. Dezember 1938 nach Köln zum amerikanischen Konsulat. Dort hofften sie, die nötigen Visa zu bekommen. Joseph Albersheim bat Linus Lammerding, ihm behilflich zu sein, bei früheren Kunden der Albersheims noch ausstehende Schulden einzufordern, denn das Geld wurde ja dringend benötigt. Gleichzeitig ahnte er, dass die Zeit sehr knapp geworden war.

So gehen weitere Briefe an Linus Lammerding, in denen man sich für zugeschickte Lebensmittel bedankt, um weitere Lieferungen bittet, finanzielle und geschäftliche Dinge erledigt. Am 27. April berichtet zum Beispiel Otto Eichenwald von einem geschäftlichen Besorgungsgang, den er für Linus Lammerding in Krefeld unternommen hatte. Anna Uhlmann erzählt, dass Joseph Albersheim mehrfacheine Art Geheimsprache verwendete. Wenn er zum Beispiel von Eiern oder Kirschen sprach, konnten damit durchaus finanzielle Dinge gemeint sein, über die sich Linus Lammerding im Klaren war.

Am 10. Juli 1939 konnte Joseph Albersheim davon berichten, dass Otto Eichenwald seit Ende Juni in einer Tiefbaufirma eine Anstellung gefunden hatte und Ruth seit vier Wochen einer Beschäftigung in einer Kartonagefabrik nachging. Andere Einkünfte hatte die Familie nicht mehr. 

Am 6. August 1939 kam es in Münster, in der Hermannstraße 44, der Wohnung von Fritz Eichenwald, der von Billerbeck nach Münster verzogen war, zu einem Treffen mit Linus Lammerding. Sich in Billerbeck zu treffen, wäre wohl für beide Familien zu riskant gewesen. Unter anderem ging es auch diesmal wieder um Geldangelegenheiten. Von den Ausreiseplänen erwähnt Joseph Albersheim im letzten erhaltenen Brief vom 21. Juli 1939 nichts. Mit Ausbruch des Krieges war dieser Ausweg endgültig versperrt.

Anna Uhlmann erzählte viel später: "Bevor Kurt und ich nach Amerika aufbrachen, besuchten wir die Familie in Krefeld. Ich erinnere mich, dass wir für Rolf und Eva Schuhe kauften und einige Spielsachen. Glauben Sie mir, es brach uns das Herz. Den letzten Brief, den wir aus Krefeld erhielten, gab ich Steve Albersheim bei seinem Besuch in Oak Lawn. Jeder hatte etwas geschrieben und den Brief unterschrieben. Sie baten natürlich verzweifelt um Hilfe (für die Auswanderung), die wir nicht geben konnten. Sie hatten alle Visa, um nach Bolivien auszuwandern, aber sie hatten nicht genug Geld. Wir hatten schon für die Überfahrt von Wilhelm bezahlt (Annas Bruder), der nach Bolivien gelangte. Der Rest des Geldes, den wir für eine Auswanderung nach Cuba gespart hatten, war verloren gegangen. Es hatte jeder so viele Verpflichtungen innerhalb seiner eigenen Familie. Ich möchte betonen, dass wir nie darüber hinweggekommen sind. Es verfolgt uns solange wir leben."

Den letzten Kontakt mit den Familien Albersheim und Eichenwald vor der Deportation hatte Frau Anni Leuters, geborene Lammerding, Schwester von Linus Lammerding. Geschäftlich war sie im Herbst 1941 in Dortmund unterwegs und entschloss sich spontan zu einem Besuch in der Dreikönigenstraße. Ihre Angst, wegen des Besuchs vielleicht Ärger mit den Nazis zu bekommen, konnte sie überwinden. In Krefeld fragte sie sich durch und hatte die Straße bald gefunden. An der Tür fand sie ein Namensschild „J. Israel Albersheim“. Sie kannte vor allem Ruth und Otto, die Großeltern Joseph und Selma weniger. Als sie klingelte, öffnete ihr Ruth die Tür. Sie war verschreckt, denn unerwarteter Besuch bedeutete meist nichts Gutes. Durch die Tür kam man gleich in die Wohnküche der sehr kleinen Wohnung. Rolf-Dieter und Eva spielten auf dem Boden. Ruth wirkte während des ganzen Besuchs sehr bedrückt; am Kleid trug sie den Judenstern. Sie erzählte, dass sie inzwischen eine Aufforderung erhalten hätten, sich auf die Umsiedlung in den Osten, nach Riga, vorzubereiten. Am Tag zuvor seien sie zur Behörde gegangen, um per Unterschrift ihren ganzen Besitz an den Staat abzutreten.

An den genauen Zeitpunkt des Besuchs kann sich Frau Leuters nicht mehr erinnern. Die "Vermögenserklärungen", mit denen die Nazis in einer äußerlich legalen Form die Juden um ihr Vermögen beraubten, wurden meistens nur wenige Wochen vor der Deportation, oft schon im Zusammenhang mit der Transportverfügung an die Betroffenen geschickt. Das hieße, dass dieser letzte Besuch Mitte oder Ende November 1941 stattgefunden haben muss. Frau Leuters weiß noch, dass die kalte Jahreszeit begonnen hatte. Hier reißt der Faden persönlicher Erinnerungen und Zeugnisse ab. Alles, was Ruth, Otto, Rolf-Dieter, Eva und der Großmutter Selma nun widerfuhr, müssen wir erschließen aus Zeugnissen von Überlebenden und aus den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung.  

Was diese Menschen erleben und erleiden mussten, ist für uns weder nachvollziehbar noch vorstellbar. Hilflos stehen wir vor diesem entsetzlichen Geschehen. Dennoch möchten wir versuchen, ihnen so etwas wie ein letztes Geleit zu geben, indem wir auch den Transport nach Riga und den Aufenthalt im Ghetto nicht ausklammern. Bei allem, was wir der Forschung und den Aussagen Überlebender entnehmen, wissen wir, Selma Albersheim, Ruth und Otto Eichenwald und die Kinder Rolf-Dieter und Eva gehörten zu diesen Menschen, die all ihrer Rechte beraubt schließlich ermordet wurden. Joseph Albersheim und seiner Schwester Adele blieb die Deportation erspart; Adele starb 1940, Joseph 1941 in Krefeld, beide sind dort begraben. Die Deportation nach Riga war für Donnerstag, den 11. Dezember 1941 vorgesehen. Von Düsseldorf aus sollte der Zug Juden vor allem aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf und damit auch aus Krefeld nach Riga bringen. Am Tag zuvor wurde die etwa 140 Personen umfassende Gruppe aus Krefeld begleitet von Polizisten, mit einem regulären Zug in reservierten Waggons nach Düsseldorf gebracht. Um die Tarnung der Endlösung als "Umsiedlung in den Osten" aufrechtzuerhalten, waren den Betroffenen Listen gegeben worden, mit den erlaubten und empfohlenen Gepäckstücken. Bis zu 50 Kilogramm Gepäck pro Person durfte mitgenommen werden. So wird auch die Familie Albersheim-Eichenwald versucht haben, möglichst viel ihrer Habe mitnehmen zu können. Hatten sie auch, wie in den Listen erlaubt, Koch- und Essgeschirr dabei; Nägel und Wandhaken, Schuhputzzeug, Kleiderhaken und Ösen usw. eingepackt? Wieviel Spielzeug konnten Rolf-Dieter und Eva mitnehmen? Wie auch immer - in Riga sollten sie nichts von dem, was in Düsseldorf bürokratisch genau in Gepäckwagen verstaut worden war, wiedersehen.

Vom Düsseldorfer Hauptbahnhof mussten alle zu Fuß nach Düsseldorf-Derendorf laufen. Bei diesem Zug durch die Stadt schaute man ihnen heimlich hinter Gardinen versteckt nach. Es geschah öffentlich, nicht im Stillen - man konnte wissen, wenn man wollte. In Derendorf wurden sie im Schlachthof gesammelt. Insgesamt kamen 1007 jüdische Männer, Frauen und Kinder dort zusammen. Jeder wurde auf Wertsachen durchsucht. Sie mussten sich nackt ausziehen. Wenn ihnen die Kleider und das Handgepäck zurückgegeben wurden, fehlte bereits manch ein kostbares Erinnerungsstück. Die Nacht verbrachten sie im kalten Schlachthof stehend oder auf dem nasskalten Boden hockend. Um 4 Uhr am Morgen mussten sie sich an der Verladerampe bereitstellen, doch stand der Zug erst nach 5 Stunden ermüdenden Wartens in der Dezemberkälte um 9 Uhr zum Einsteigen bereit. Offenbar ging das Einladen in Passagierwagen der 3. Klasse dann sehr hektisch vonstatten, denn einzelne Wagen waren überfüllt, andere halb leer. Eltern wurden von ihren Kindern getrennt und erst bei weiteren Halts im Laufe der Fahrt zusammengeführt - Rolf-Dieter und Eva auch? Weil die Heizung nicht richtig funktionierte, waren einige Wagen sehr heiß, andere ganz kalt. Zwischendurch fiel gelegentlich der Strom aus. Die meisten hatten zu wenig Reiseproviant dabei und es gab nichts zu trinken außer dem, was man vor der Abfahrt in Krefeld mitgenommen und wohl bald ausgetrunken hatte. 

Die Fahrt ging über Wuppertal, Hagen, Schwerte, Hamm, dann weiter über Hannover nach Berlin, von dort über das preußische Königsberg durch Litauen hindurch in die lettische Hauptstadt Riga. Bei den verschiedenen, zum Teil sehr langen Halts an verschiedenen Bahnhöfen versuchten einzelne, Post aufzugeben oder an Wasser heranzukommen. In Hannover-Linden ließ man "einem Teil der Juden etwas Wasser verabfolgen." Der in diesem kalten Bürokratendeutsch über diese Fahrt berichtet, ist der Anführer des begleitenden Polizeikommandos, der Hauptmann Fritz Salitter. Sein Bericht hat ihm in der wissenschaftlichen Literatur zu zweifelhafter Berühmtheit verholfen, denn dadurch sind über diese Fahrt bestimmte Umstände bekannt, die man von anderen Deportationszügen nicht kennt. Kurz vor der Grenze nach Litauen ließ Salitter "die Juden letztmalig aus einem in der Nähe liegenden Brunnen Wasser fassen". Er und seine Begleitmannschaft waren indessen vom Roten Kreuz "ausreichend und gut verpflegt" worden: "Es wurde Graupensuppe mit Rindfleisch verabfolgt."

Wie mögen die Kinder diese Fahrt erlebt haben?

Salitter war sich bewusst, dass er hier keinen gewöhnlichen Sonderzug begleitete oder eine Umsiedlung bewachte. Er wusste, dass man in Riga bereits Tausende von Juden umgebracht hatte, er wusste, dass die sogenannte "Umsiedlung" nichts anderes sein sollte als die "Ausrottung dieser Parasiten", wie er sich in seinem Bericht ausdrückte, in diesem Fall nicht bürokratisch verschleiert. 

Je weiter der Zug nach Osten kam, umso kälter wurde es. Als er am 13. Dezember um 23:35 Uhr am Bahnhof Skirotava, etwa 8 km südöstlich von Riga, ankam, war es bitterkalt - minus 12°C und es schneite. 61 Stunden Fahrt lagen hinter den Menschen. Zunächst aber mussten alle den Rest der Nacht in den nun ungeheizten Wagen zubringen. Am Morgen gegen 9 Uhr hörten sie Hundegebell SS-Männer rissen die Türen auf und trieben die Menschen in Reihen zusammen. Dann mussten sie sich auf den langen Fußmarsch ins Ghetto machen. 

Das Ghetto befand sich in der sogenannten Moskauer Vorstadt, einer ehemaligen Armensiedlung mit armseligen, alten Holzhäusern. Hier waren noch wenige Tage zuvor lettische Juden untergebracht gewesen. Die letzten wurden am 8. Dezember 1941 unter Einsatz brutaler Gewalt im Ghetto zusammengetrieben, in den Wald von Rumbula gebracht und dort erschossen. Am 10. Dezember, an dem Tag, als sich die Familie Albersheim/Eichenwald in Krefeld auf den Weg machte, kam in Riga der erste Zug mit Deportierten aus dem Rheinland an. Er war am 7. Dezember in Köln abgefahren. Die Straßen im Ghetto waren nach der Mordaktion an den lettischen Juden noch nicht gesäubert worden. Steifgefrorene Leichen waren zu sehen, Blut überall, in den Häusern war alles durchwühlt, Mobiliar zerstört, auf manchen Tischen stand noch das Essen - eingefroren. Auch die nach den Kölnern eintreffenden Deportierten aus Kassel und Düsseldorf fanden diese Zustände noch vor und bald sollten sie von den wenigen lettischen Männern, die man wegen ihrer Arbeitskraft am Leben gelassen hatte, erfahren, was vorgefallen war.

Was sahen Rolf-Dieter und Eva? Was ging in ihnen vor?

Sah es in ihrem Haus auch so aus wie in dieser Beschreibung von Hilde Sherman, die mit dem Düsseldorfer Transport nach Riga gekommen war und überlebte? „Der Vorraum bestand aus einer kleinen Küche mit einem aus Ziegelsteinen gemauerten Herd. In der Mitte des Herdes, unten, lagen Holzscheite zum Trocknen. Im Nebenraum, einem mittelgroßen Zimmer, waren in der Ecke mehrere Matratzen gestapelt, daneben stand ein Kleiderschrank und in der Mitte ein gedeckter Tisch. Er trug Teller, Bestecke, Tassen und - was uns am meisten erstaunte - Schüsseln mit angerichteten Speisen, die allerdings steinhart gefroren waren“. Hilde Sherman erzählt weiter: „Wir wussten nicht, womit wir beginnen sollten: siebzehn Menschen in einem Zimmer zusammengepfercht, ohne Hygiene, ohne Arbeit, ohne Essen. Dazu die unbarmherzige Kälte. Im Nu war das ganze Holz verbrannt, die Schuppen hinter den Häusern wurden im Handumdrehen leer, dann wurden auch sie verheizt. Wir fanden gefrorene Kartoffeln, Rüben, Kohl und Baumrinde. Das alles kochten wir in aufgetautem Schnee und bekamen Durchfall davon, hatten aber nichts anderes zu essen.“

Welch eine Situation für Kinder... Am 15. Dezember, dem dritten Tag im Ghetto, wurde Eva vier Jahre alt. Während sich in Billerbeck die Kinder auf das Weihnachtsfest vorbereiteten, Geschenke bastelten, Plätzchen backten, trotz des Krieges die besinnliche Atmosphäre des Advent empfanden, mussten sich Rolf-Dieter und Eva auf die Lebensumstände im Ghetto einstellen. Wie oft mögen sie gefragt haben: Warum? Und was haben ihre Eltern ihnen antworten können? 

Am 22. Dezember sahen die beiden Kinder ihren Vater zum letzten Mal. An diesem Tag wurden alle arbeitsfähigen Männer im Alter von fünfzehn bis 55 Jahren zusammengetrieben und nach Salaspils abtransportiert. Darunter war auch Otto Eichenwald. Salaspils war ein neu entstehendes Lager, das die Häftlinge mit ihren eigenen Händen in eisiger Kälte und unter den unmenschlichsten Bedingungen aufbauen mussten. Kaum einer hat diesen "Arbeitseinsatz" überlebt. Otto Eichenwald starb schon im Januar 1942. Dies bezeugte nach dem Krieg ein Albert Kaufmann vor dem Amtsgericht Krefeld, durch dessen Beschluss Otto Eichenwald am 10. September 1948 für tot erklärt wurde. Bestätigt wird diese Aussage von einer Überlebenden des Rigaer Ghettos, Margarete Eichenwald. Sie kam aus Horstmar und kannte Otto Eichenwald von dort, war aber nicht mit ihm verwandt. Nach dem Krieg konnte sie mitteilen, dass Otto Eichenwald im März 1942, als ihr eigener Mann nach Salaspils kam, nicht mehr lebte.

Vielleicht hat sich Otto Eichenwald ganz froh und hoffnungsvoll von seinen Kindern verabschiedet, denn der Ghetto-Kommandant Krause gab vor, sie würden dort ein Lager bauen, in das später ihre Kinder und Frauen nachkommen würden. Gelegentlich kamen spärliche Informationen von Salaspils ins Ghetto - es waren keine guten. Hat Ruth je erfahren, was mit ihrem Mann geschehen war? Erfuhren die Kinder vom Schicksal ihres Vaters? 

Irgendwie schaffte es Ruth Eichenwald, ihre Kinder und ihre Mutter Selma bis zur Auflösung des Ghettos am Leben zu erhalten. Margarete Eichenwald schreibt in ihrem Brief an Walter Albersheim: "Mit Ihrer Mutter und Schwester war ich im Ghetto viel zusammen, und das kleine Mädchen war eine richtige Puppe und der Junge ein leckerer Bengel. Es verging kaum ein Tag, wo die Kinder nicht zu meinen Jungens kamen und spielten. Mein Erwin spielte, wenn er auch älter war, gern mit ihnen.... Vielleicht ist es Ihnen ein kleiner Trost, dass ihre Lieben, solange sie im Ghetto waren, nicht gehungert haben, da Ihre Schwester ein Kommando hatte, von wo sie was mitbringen konnte.“

Es gab solche "guten" Kommandos, in denen die Arbeit nicht zu hart war, in denen es zusätzliche Essensrationen gab oder eine günstige Möglichkeit, heimlich Lebensmittel einzutauschen und ins Ghetto zu schmuggeln. Die Kommandos, das heißt die Orte und Einrichtungen, bei denen Juden zur Arbeit eingeteilt waren, lagen außerhalb des Ghettos in der Stadt Riga oder Umgebung. Die Arbeitskommandos verließen also das Ghetto am Morgen und kamen abends wieder zurück. Das bot Gelegenheit zum Tauschhandel. Das Schmuggeln war verboten, und wer erwischt wurde, bezahlte meist sofort mit seinem Leben. Dennoch überlebten viele nur durch diesen Tauschhandel. Es ist auch bezeugt, dass manch ein Ghettobewohner Kindern etwas zusteckte. Bei den festgelegten Essensrationen bekamen kleine Kinder einen Liter fettfreie Milch pro Woche zusätzlich. Ob Eva noch zu dieser Gruppe gehörte? Viele lettische Juden, die auf dem Gelände des Ghettos in einem eigenen Bezirk untergebracht waren und deren eigene Kinder und Verwandten gerade erst umgebracht worden waren, halfen den deutschen Juden, indem sie Nahrungsmittel hereinschmuggelten, besonders Milch für die Kinder.

Als es im Frühling und Sommer wärmer wurde, pflanzten einige in den Hinterhöfen Gemüse an. Der Sommer 1943 ist den Ghettoüberlebenden sogar noch als ein besonders schöner Sommer in Erinnerung und man freute sich auf die gute Ernte. 

Ja, neben der Winterkälte, dem Hunger und den vielen Krankheiten gab es auch das. Man richtete sich ein, so gut es ging. Es wurden Institutionen geschaffen: Schulen, Theater, Konzerte und Sportwettkämpfe. Die Juden schufen auf diese Weise so etwas wie eine Gegengesellschaft im Ghetto, der Versuch, ein solidarisches Miteinander zu erhalten, das dem Unrecht der Nazis widerstehen sollte; ein trotziges "Wir leben noch!“ 

Ruth Eichenwald ist eine hingebungsvolle Mutter gewesen, wie uns ihre Cousine Anna Uhlmann bestätigte. Sie wird alles getan haben, um es den Kindern so erträglich wie möglich zu machen. Was machten Rolf-Dieter und Eva, wenn ihre Mutter zum Arbeitseinsatz aufgebrochen war? Blieb die Großmutter ohne Kommando und konnte sich um sie kümmern?

Nachdem im Frühjahr 1942 immer mehr Transporte mit deutschen Juden im Ghetto ankamen, erlaubte Ghettokommandant Krause die Errichtung von Schulen für die Kinder im Alter von 4 bis 15 Jahren. Kinder ab 16 mussten arbeiten, später auch schon ab 12 Jahre.

Gertrude Schneider, Wiener Jüdin und Überlebende des Ghettos Riga, hat als Historikerin ihre Erfahrung festgehalten. Es gab eine solche Schule für die Gruppe der Wiener Juden in der Berliner Straße 5. Auf der Ecke Berliner und Leipziger Straße wurde eine für die Berliner Juden eingerichtet. Auch die Leipziger und Düsseldorfer Juden hatten große Schulen, berichtet sie. Wir dürfen also annehmen, dass Rolf-Dieter und Eva irgendwann im Laufe des Jahres 1942 die Düsseldorfer Schule besuchten.

Es gab genügend Lehrer unter den Deportierten. Die Männer wurden allerdings den Arbeitskommandos zugeteilt, so dass hauptsächlich Frauen den Unterricht übernahmen. In der Wiener Gruppe übernahm es ein Professor, Lehrpläne aufzustellen und die Lehrkräfte zu unterstützen. Es gab kaum Papier oder Bücher. Alles wurde mehrmals wiederholt, das meiste musste auswendig gelernt werden. So lernten die Kinder Balladen, Gedichte und Geschichten und Lieder.

Diese Schulen richteten den Blick auf die Zukunft, auf ein Leben nach dem Ghetto, sie gaben Hoffnung. Wenn die Kinder am Abend den Eltern vom Schultag erzählten, ihre Balladen und Gedichte aufsagten oder Lieder sangen, kam etwas von dieser Hoffnung in die armseligen Unterkünfte.

Wenn die Kinder aus der Schule kamen, warteten bestimmte Aufgaben auf sie. Die älteren bereiteten ein Herdfeuer oder kochten schon für die Eltern. Andere dienten als Laufburschen und brachten Nachrichten zwischen den Büros der jüdischen Selbstverwaltung hin und her, wieder andere reinigten die Straßen und Häuser. Die ganz kleinen blieben in der Schule, bis die Eltern sie abholen konnten. Den Lehrern steckten die Eltern oft eine Extraration zu, denn sie waren sehr dankbar für die Möglichkeiten, die sie ihren Kindern eröffneten.

Gleichzeitig hing das Leben jedes einzelnen Kindes und Erwachsenen täglich an einem seidenen Faden. Im Februar und März 1942 fanden die brutalsten Mordaktionen statt. Die jüdische Selbstverwaltung bekam von Ghettokommandant Krause den Auftrag, Juden auszuwählen, die nicht den Arbeitskommandos zugeteilt waren: Alte, Kranke, Eltern mit kleinen Kindern. Sie sollten außerhalb des Ghettos in einer Fischfabrik in Dünamünde arbeiten. So bereiteten sich alle, die aufgelistet wurden vor, packten ihre Habseligkeiten zusammen und warteten auf den Transport. Die Aktionen liefen immer ähnlich ab. So beschreibt Gertrude Schneider den 15. März 1942. An diesem Morgen, einem Sonntag, wurden die Juden nach und nach auf Lastwagen verfrachtet. Die Kastenwagen, die wie Kühlwagen aussahen, kamen nach etwa 20 Minuten wieder leer zurück. Als sie zum dritten Mal leer ins Ghetto kamen, bereitete sich Unruhe aus. Doch nun war es zu spät. Mit Gewalt wurden die Juden in die Wagen getrieben. Keiner von ihnen überlebte.Die Fischfabrik in Dünamünde war nur ein Vorwand gewesen. Die Wagen brachten die Menschen in den Wald von Bikernieki. Dort wurden sie in vorbereiteten Massengräbern erschossen. 1900 jüdische Menschen kamen allein an diesem Tag ums Leben, vor allem Alte, Kranke und Kinder, die den Nazis als unnütze Esser erschienen, die man ausmerzen musste. Am nächsten Morgen kamen die Lastwagen und kippten die Kleider der Opfer aus, darunter Babyflaschen, Spielsachen von Kindern, Brillen, Lebensmittel, Ledertaschen, in denen man Dokumente und persönliche Erinnerungsphotos mitgenommen hatte.

Manche Kinder überlebten, weil sie sich rechtzeitig verstecken konnten. Manche  überlebten, weil ihre Eltern in sogenannten "sicheren" Kommandos arbeiteten. Das heißt, ihre Arbeitskraft wurde gebraucht. Rolf-Dieter und Eva Eichenwald haben diese sich über Wochen hinziehende "Operation Dünamünde" überlebt. 

Im Sommer und Herbst 1943 wurde das Ghetto nach und nach aufgelöst. Immer mehr Menschen wurden in das KZ Kaiserwald nördlich von Riga gebracht. Am 2. November 1943 kam es zu einer letzten großen Selektion, mit der das Ghetto Riga faktisch aufgelöst wurde. Die letzten Arbeitskommandos hatten an diesem Morgen wie immer das Ghetto verlassen. Als sie zurückkehrten, war das Ghetto leer. Alle älteren Menschen, die tagsüber im Ghetto blieben, um die Häuser zu putzen, alle noch lebenden Kinder und ihre Lehrer, alle Kranken waren weg. Diesmal ging der Transport nicht wie so oft vorher zu den Massengräbern im Wald von Bikernieki, sondern nach Auschwitz. Dort wurden nur wenige ins Lager geschickt, die allermeisten wurden von der Verladerampe aus gleich nach der Ankunft in die Gaskammern geschickt.

An diesem Morgen des 2. November 1943 wurden auch Rolf-Dieter und Eva Eichenwald, ihre Mutter Ruth und ihre Großmutter Selma zum letzten Mal von jemandem gesehen, der von ihrem Schicksal erzählen konnte. Margarete Eichenwaldschrieb 1948 an Walter Albersheim, den Onkel der beiden Kinder: „Leider ist Ihre Mutter, Ihre Schwester und die lieben Kinder am 2. Nov. 1943 mit einer grossen Aktion mit noch 2500 Menschen nach Auschwitz geschickt worden.“ 

In den Archiven von Auschwitz gibt es keinen Hinweis mehr auf sie. Möglicherweise war der 5. November, der Tag, an dem der Transport das Vernichtungslager erreichte, ihr Todestag.

Rolf-Dieter und Eva Eichenwald, wie wir Kinder aus Billerbeck - ermordet, weil sie Kinder jüdischer Eltern waren und weil es keine Hilfe gab. 

Rolf-Dieter wurde sieben Jahre alt, Eva starb etwa sechs Wochen vor ihrem sechsten Geburtstag. Und doch ist es, als habe es die beiden niemals gegeben. Zwei Menschen, zwei Welten vernichtet - unbemerkt von ihren Altersgenossen in Billerbeck.
 
Zwei Menschen, deren Namen wir hier bewusst erinnern möchten. Von den etwa 140 Personen, die aus Krefeld deportiert wurden, überlebten nur 18. Von den 41 Kindern im Alter bis zu sechs Jahren, die von Düsseldorf aus deportiert wurden, überlebte keines.

Mit freundlicher Unterstützung von der
Wolfgang Suwelack-Stiftung