Deportation jüdischer Bürger nach Riga
Deportation jüdischer Bürger nach Riga
Zur Geschichte der Deportation jüdischer Bürger nach Riga 1941/1942
(redigierter) Vortrag von Prof. Dr. Wolfgang Scheffler anlässlich der Veranstaltung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Luise-Schröder-Saal des Berliner Rathauses am 23. Mai 2000 zur Gründung des Riga-Komitees
Vom November 1941 bis zum Winter 1942 wurden aus dem Gebiet des damaligen Deutschen Reiches in 33 Transporten mehr als 25.000 Juden, Männer, Frauen, Kinder – im Verlauf der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“, dem Tarnbegriff für den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas – in den baltischen Raum, in erster Linie nach Riga, deportiert. Nur drei bis vier Prozent sollten dieses Inferno überleben.
Warum verschleppte man sie ausgerechnet in die lettische Hauptstadt?
Im ersten Halbjahr 1941 schien es, als ob eine Entfernung der deutschen Juden aus dem Reichsgebiet auf die Zeit nach einem siegreichen Ende des Krieges verschoben werden sollte. Erst im September gab Hitler seine Genehmigung für eine zunächst kontingentierte Deportation.
Trotz der seit langem anhaltenden Bemühungen Heydrichs, dieses Ziel zu erreichen, waren bis zum September keinerlei Vorbereitungen für eine geographische Lösung getroffen worden. Die Stadtverwaltung von Lodz, damals Litzmannstadt genannt, in deren Zuständigkeit das einzige bis dahin existierende Großghetto auf dem Hoheitsgebiet des Deutschen Reiches fiel, wehrte sich vehement, aber vergeblich dagegen, in das ohnehin überfüllte Ghetto zigtausende deutsche Juden aufzunehmen.
Von angedachten 60 000 musste die Zahl auf 20 000 verringert werden. Hinzu kamen allerdings noch Tausende Roma und Sinti. Himmler und Heydrich waren sich bewusst, dass andere Zielorte gefunden werden mussten. Der besetzte sowjetrussische Raum, in dem ohnehin die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD und die Verbände der Ordnungspolizei bereits systematisch mordeten, rückte damit in den Mittelpunkt der Erörterungen. Nach einigem Hin und Her wurden Minsk und Riga als künftige Deportationsziele für 50 000 Juden aus dem Reichsgebiet ausgewählt. Aber auch hier gab es Schwierigkeiten.
Die Arbeitsbedingungen in den Betrieben und Dienststellen waren unterschiedlich und hingen von der Willkür der Befehlsgeber ab. Sie reichten von fast KZ-ähnlichen Verhältnissen bis zu den sogenannten guten Betrieben. Die Suche nach Lebensmitteln, der mit der Todesstrafe bedrohte Tauschhandel und viele weitere Unwägbarkeiten bestimmten das Leben. Zwischen dem Versuch, eine irgendwie den Verhältnissen angepasste Lebensweise zu organisieren, und der ständigen Willkür der Polizeikräfte versuchte man zu überleben.
Um den täglichen Marsch zu den Betrieben zu sparen, richtete man in Fabriken und Dienststellen sogenannte „Kasernierungen“ ein, deren „Qualität“ wiederum vom vorhandenen oder nicht vorhandenen Engagement der jeweiligen Vorgesetzten abhing.
Die Deportationen nach Minsk mussten wegen der hereinbrechenden Winterkatastrophe und der sich anbahnenden deutschen Niederlage vor Moskau aufgrund der Proteste der Wehrmacht abgebrochen werden. In Riga waren trotz der Zusicherungen des Führers der Einsatzgruppe A, Dr. Franz Walter Stahlecker, keinerlei Aufnahmemöglichkeiten vorhanden. Daraufhin ordnete der HSSPF (Höhere SS und Polizeiführer) Ostland, Friedrich Jeckeln, die Räumung des erst am 25. Oktober 1941 geschlossenen Rigaer Ghettos an. Am 30. November, dem Rigaer Blutsonntag, und am 8./9. Dezember 1941 wurden 26 500 lettische Juden im Wald von Rumbula von SS und Polizeiangehörigen sowie lettischen Hilfswilligen ermordet.
Die noch nicht abgeschlossene Räumung des Rigaer Ghettos führte auch dazu, dass die Menschen der ersten vier Transporte, die in den ersten Dezembertagen 1941 aus Nürnberg, Stuttgart, Wien und Hamburg in Riga ankamen, nach Jungfernhof gebracht wurden. Erst mit der Ankunft des Transports aus Köln wurden deutsche Juden in das Ghetto gebracht, wo sie die blutigen Überreste der unmittelbar vorher beendeten Räumung vorfanden.
Im Dezember folgten dann noch Transporte aus Kassel, Düsseldorf, Münster/Bielefeld und Hannover. In den Wohnungen der vorher ermordeten lettischen Juden wurden nun die Deportierten untergebracht. Da der größere Teil des von den lettischen Juden geräumten Ghettos für die hereinkommenden Transporte nicht zur Verfügung stand, herrschte in den Wohnungen qualvolle Enge, zumal von Januar bis Anfang Februar 1942 zwei weitere Transporte aus Theresienstadt, drei aus Berlin, zwei aus Wien und je einer aus Leipzig und Dortmund folgten.
Sowohl aus dem Ghetto als auch aus Jungfernhof wurden viele arbeitsfähige Männer in das noch gar nicht existierende spätere Polizeihaftlager Salaspils gebracht, wo sie bei eisiger Kälte zunächst ihre eigenen Unterkünfte und später das ganze Lager aufbauen mussten.
Die Transporte nach Riga wurden danach erst im August bis Dezember 1942 im monatlichen Abstand (Transporte aus Berlin) wieder aufgenommen. Ein Transport (aus Berlin und Frankfurt a. M.) wurde im September 1942 nach Estland weitergeleitet.
Von allen diesen Vorgängen hatte die jüdische Bevölkerung im Reichsgebiet, als sie die Nachricht von ihrer bevorstehenden Abschiebung nach Osten erfuhr, keine Ahnung. Im Gegenteil, man spiegelte ihr vor, als Aufbaukräfte in den neu besetzten Ostgebieten Arbeit und Unterkunft zu finden. Die Deportationsrichtlinien erließ das Judenreferat des Reichssicherheitshauptamtes. Die örtlichen Leitstellen der Staatspolizei (Stapo) fassten sie für den lokalen Bereich zusammen und organisierten für ihren Zuständigkeitsbereich den gesamten Abtransport.
So war der Dienstsitz der Stapoleitstellen das Zentrum, zu dem die Judentransporte der umliegenden Städte und Gemeinden zumeist zusammengeführt wurden, um dann den Transport gemäß den Absprachen mit der Deutschen Reichsbahn auf seinen verhängnisvollen Weg zu schicken. Die lokale Schutzpolizei begleitete die Transporte bis nach Riga. Nach dem Krieg wurde lange Zeit der Eindruck erweckt, als ob der Abtransport der Juden aus dem Reichsgebiet eine Art „Geheime Reichssache“ gewesen sei. Schon in den sechziger Jahre war aber in den Gerichtssälen völlig klar, dass es sich dabei um eine reine Verteidigungsstrategie der Beschuldigten handelte.
Im Gegenteil, die Deportation der deutschen Juden war ein in den Behörden weithin bekannter Vorgang, der die Verwaltungen umfangreich beschäftigte. Von den Arbeitsämtern, den Industriebetrieben, den Finanzämtern, den Wohlfahrtsbehörden bis hin zu den Gerichten wurde der Vorgang als ein bürokratischer Akt behandelt. Die Banken erließen genaue Richtlinien, wie mit den Anordnungen des Reichsfinanzministeriums umzugehen sei.
Die NSDAP und ihre Organisationen, vornehmlich die NS-Volkswohlfahrt, versteigerten und verteilten das Hab und Gut der Deportierten, nachdem zunächst vornehmlich die Finanzämter und andere Behörden sich aus dem beweglichen Hab und Gut für ihre Zwecke bedient hatten.
Anfängliche Unsicherheiten in der Abwicklung des behördlichen Vermögensraubs wurden mit dem Erlass der 11. Verordnung zum Reichbürgergesetz beseitigt, derzufolge ein Jude beim „Verlassen des Reichsgebiets“ nicht nur seine Staatsangehörigkeit, sondern auch sein Vermögen verlor. Die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ und die noch bestehenden jüdischen Gemeinden, die unter dem Kuratel der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) standen, wurden gleichermaßen in den Verwaltungsvorgang miteinbezogen. Sie hatten die Deportationslisten nach den Richtlinien der Gestapo zusammenzustellen, die dann von der Stapo überarbeitet und genehmigt wurden. Sie betreuten die Menschen bis zum Abtransport. Durch Sonderabgaben auf das „Sonderkonto W“ der Reichsvereinigung musste die jüdische Bevölkerung schließlich den Abtransport in den Tod selbst bezahlen.
Gemäß den Richtlinien nur mit dem Allernotwendigsten versehen, wurde das Gepäck der für den Abtransport bestimmten Personen in den Sammelstellen durch die Gestapo kräftig gefilzt, da die Anweisungen der jüdischen Organisationen mit denen der Gestaporichtlinien sehr oft nicht übereinstimmten und die Polizisten ohnehin die Bestimmungen willkürlich auslegten. Anfänglich standen noch alte Personenwaggons zum Abtransport bereit. Später wurden dann nur noch ungeheizte Güterwagen zur Verfügung gestellt, was zu zahlreichen Erfrierungen bei den Transportinsassen führte.
In Riga mussten immer zuerst Tote ausgeladen werden.
Der Schock über die Verhältnisse vor Ort war gewaltig. Bei der Ankunft auf dem Güterbahnhof in Riga wurden die Insassen mit Gebrüll und teilweise mit Gewalt aus den Wagen getrieben. Diejenigen, die den Fußmarsch nach Jungfernhof oder in das Ghetto nicht leisten konnten, wurden mit Lkw fortgeschafft. Man sah sie nie wieder. Über die vereisten Straßen mussten sich die Menschen zu ihrem Unterbringungsort hinschleppen. Die Unbill des Wetters, nicht nur der böse Wille, sondern auch die hervorzuhebende deutsche Unfähigkeit, für die Deportierten zu sorgen, führten dazu, dass es Tage und Wochen dauerte, bis die dann gewährte mangelhafte Ernährung halbwegs gesichert war. Die katastrophale Unterbringung, die Kälte, der Hunger und die konsequent sich daraus ergebenden Krankheiten führten dazu, dass allein in Jungfernhof in den Wintermonaten über 800 Menschen starben.
Im Rigaer Ghetto wurden die Angekommenen, soweit sie arbeitsfähig waren, erst zum Schneeräumen und dann nach und nach bei zahlreichen Dienststellen und Betrieben zur Arbeit eingesetzt. In nahezu 200 Arbeitsstellen wurden die jüdischen Arbeitskräfte, so merkwürdig es klingt, zu einem integralen Bestand des ohnehin knappen Arbeitskräftereservoirs, über dessen Verfügbarkeit es zu heftigen Auseinandersetzungen, sogar zu tätlichen Streitereien unter den Deutschen kam. In Salaspils war bei den barbarischen Lebens- und Arbeitsbedingungen die Sterblichkeit besonders hoch. Nur ein Bruchteil der dort hingebrachten Männer kehrte nach vollendetem Aufbau des Lagers im Sommer 1942 völlig entkräftet in das Rigaer Ghetto zurück. Bereits im Februar, aber vor allem am 26. März 1942, fanden sowohl in Jungfernhof als auch im Ghetto große Selektionen statt, denen in beiden Lagern nahezu 3.000 als arbeitsunfähig angesehene Menschen zum Opfer fielen. Unter dem Vorwand, sie in ein Lager in Dünamünde zu bringen, das in Wirklichkeit gar nicht existierte, und wo es in einer Konservenfabrik angeblich leichtere Arbeitsbedingungen gäbe, transportierte man die Opfer zu den Massengräbern im Wald von Bikernieki und erschoss sie. Von diesem Zeitpunkt an war das Ghetto vor allem ein Arbeitsghetto. Jungfernhof bestand als Judenlager noch bis zum Sommer 1942. Die meisten Arbeitskräfte wurden dann in das Rigaer Ghetto gebracht, die übrigen erst 1943.
Einen besonders üblen Ruf erwarb sich der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD, Dr. Rudolf Lange, dessen Schießwut keine Grenzen kannte. Dass eine Steigerung des Elends noch möglich war, erfuhren die Ghettoinsassen anlässlich ihrer Überführung in das neu errichtete KZ Kaiserwald in einem Vorort von Riga. Die Räumung des Ghettos, die im Sommer 1943 begann, zog sich bis in den Spätherbst hin. Im Ghetto sammelte man alle jene, die als arbeitsuntauglich galten, und deportierte über 2.000 von ihnen Anfang November nach Auschwitz. Nur ein kleines Säuberungskommando blieb dann im leeren Ghetto bis 1944. Auch wenn die überwiegende Zahl der Arbeitskräfte weiterhin in den Kasernierungen der Betriebe lebte, war das KZ Kaiserwald die „Schaltstelle“ für alle Häftlinge. Alle Scheußlichkeiten, die mit dieser Institution verbunden waren, ereigneten sich auch hier. Medizinische Versuche, Folterungen, willkürliche Erschießungen, Selektionen, usw. Der aus Mauthausen gekommene KZ-Arzt Dr. Eduard Krebsbach leitete auch die Kinderaktion, bei der alle noch vorhandenen Kinder unter 14 Jahren zur Erschießung weggeschleppt und anschließend ermordet wurden.
Bereits seit Frühjahr 1943 wurden auch kleine Kommandos zu den „Enterdungsaktionen“ geschickt – d. h. der Verwischung der Spuren der Massenmorde durch Verbrennen der Leichen. Diese so genannten „Stützpunktkommandos“ wurden jeweils nach einiger Zeit erschossen und durch neue ersetzt.
Mit der Annäherung der Front 1944 begannen SS und Polizei mit der systematischen Rückführung der in den baltischen Staaten noch lebenden jüdischen Häftlinge nach Westen.
Über Libau wurden sie zunächst in das KZ Stutthof bei Danzig und im Lager und der weiteren Umgebung untergebracht.
In Stutthof erfuhren sie noch einmal die ganze grausame Wirklichkeit des Konzentrationslagers. Die weitere Rückführung erfolgte dann 1945 großen Teils in Fußmärschen, bis sie von der Roten Armee befreit wurden.
Der andere Teil gelangte mit dem Schiff nach Westen.
Befreit wurden die Deportierten in Schleswig-Holstein, Buchenwald und anderen Orten. Einige, die von Theresienstadt aus nach Riga deportiert worden waren, gelangten am Ende des Krieges wieder an den Ausgangsort zurück. Die Männer, die nach Bergen-Belsen kamen, fielen zum großen Teil den dort herrschenden Krankheiten zum Opfer. Eine Gruppe weiblicher Häftlinge wurde von Hamburg Richtung Kiel getrieben, wo sie dank des Schwedischen Roten Kreuzes nach Schweden in die Freiheit gelangten.
Prof. Dr. Wolfgang Scheffler
(* 22. Juli 1929 † 18. November 2008)