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Berlin

Berlin

Die Stadt Berlin ist eine von 13 Mitgliedsstädten, die am Dienstag, dem 23. Mai 2000, im Beisein von Bundespräsident Johannes Rau in Berlin offiziell das Deutsche Riga-Komitee gründeten.

Ansprechpartnerin

der Stadt Berlin für das Riga-Komitee ist

N.N.

Senatsverwaltung für Kultur und Europa
- Leiterin der Abteilung III / Europa, Denkmalschutz sowie Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften -
Brunnenstraße 188-190; 10119 Berlin
Tel.: +49 (0)30-90228 500
www.berlin.de/sen/kulteu

 

Die Stadt Berlin war bei der Erinnerungsreise anlässlich des 10-jährigen Bestehens des Deutschen Riga-Komitees und bei der Gedenkveranstaltung am 9. Juli 2010 in Riga-Bikernieki mit einer eigenen Delegation vertreten.

Ansprache zur Gedenkveranstaltung Gleis 17 am 15. Oktober 2015
Anrede / Begrüßung

Wir haben uns heute hier auf der Rampe des Bahnhofs Grunewald versammelt, um an den Beginn der Deportationen der Berliner Juden vor 74 Jahren zu erinnern und gemeinsam den Opfern des nationalsozialistischen Judenmordes zu gedenken.

Es ist der Initiative von Ihnen, liebe Frau Inge Deutschkron, und der Unterstützung durch Sie, lieber Herr Schmitz, damals Kulturstaatssekretär, zu verdanken, dass wir uns nun seit einigen Jahren jeden Herbst hier versammeln, um an dieses traurige Ereignis zu erinnern.

Von diesem Bahnhof fuhr der erste Deportationszug der Deutschen Reichsbahn aus Berlin am 18. Oktober 1941 mit 1.013 jüdischen Bürgern nach Osten in das Ghetto Litzmannstadt d.h. nach Lodz.

Mit diesem Tage begannen die systematischen Deportationen der Juden aus Berlin. Bis April 1942 fuhren die Züge hauptsächlich in die osteuropäischen Ghettos, nach Litzmannstadt, Riga und Warschau. Ab Ende 1942 fuhren sie dann direkt in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und in das Lager Theresienstadt, das im Protokoll der Wannsee-Konferenz zynisch als „Altersghetto“ bezeichnet wurde und für viele Deportierte nur eine Station auf dem Weg nach Auschwitz darstellte. Allein in die „Todesfabrik Auschwitz“ fuhren etwa 35 Züge mit 17.000 Juden vom Bahnhof Grunewald ab.

Die Menschen, die der NS-Gesetzgeber als Juden identifiziert hatte, waren vorher durch die Nürnberger Rassengesetzgebung definiert, systematisch entrechtet und aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft herausgelöst worden. Die Rassengesetzgebung trug auch dazu bei, dass Bande gesellschaftlicher Solidarität getrennt wurden, Propaganda und Antisemitismus nährten bei vielen deutschen Mitbürgern Judenhass bei anderen trugen sie zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der jüdischen Nachbarn bei. Nicht wenige hatten von der Entrechtung, gesellschaftlichen Ausgrenzung, Ächtung, Verdrängung und schließlich der Enteignung der Juden profitiert. Sie waren in die beruflichen Stellungen der jüdischen Bürger eingerückt, hatten ungeliebte Konkurrenten verloren oder Möglichkeiten zur Expansion von Handel und Geschäft genutzt. Andere übernahmen dankbar „Judenwohnung“, oder profitierten später als Ausgebombte von der Verteilung jüdischen Eigentums.

Der Deportation war auch der geschlossene Arbeitseinsatz und schließlich die Kennzeichnung der Juden vorweg gegangen: Mit einer PolizeiVO wurden sie im September 1941 gezwungen, den gelben Stern zu tragen. Victor Klemperer schrieb hierzu kurz nach dem Krieg 1949 in „LTI. Notizbuch eines Philologen“ (S. 177):„Ich frage mich heute wieder, was ich mich, was ich die verschiedensten anderen schon Hunderte von Malen gefragt habe: welches war der schwerste Tag der Juden in den zwölf Höllenjahren? Nie habe ich von mir, nie von anderen eine andere Antwort erhalten als diese: der 19. September 1941.Von da an war der Judenstern zu tragen, der sechszackige Davidsstern, der Lappen in der gelben Farbe, der heute noch Pest und Quarantäne bedeutet, und die im Mittelalter die Kennfarbe der Juden war, die Farbe des Neides und der ins Blut getretenen Galle, die Farbe des zu meidenden Bösen; der gelbe Lappen mit dem schwarzen Aufdruck ‚Jude‘, das Wort umrahmt von den Linien der ineinander geschobenen Dreiecke, das Wort aus dicken Buchstaben gebildet, die in ihrer Isoliertheit und in der breiten Überbetontheit ihrer Horizontalen hebräische Schriftzeichen vortäuschen.“

Klemperer genoss den prekären Schutz einer „nicht-privilegierten Mischehe“ mit einer sog. deutschblütigen Ehefrau, die zu ihm hielt, was ihn schließlich vor der Deportation bewahrte.
Die meisten jüdischen Bürger wurden mit dem Stern an der Brust in Eisenbahnzüge verladen und nach Osten verbracht und dort - oft erst nach einem Aufenthalt im Ghetto und Zwangsarbeit - ermordet.

Diesen ungeheuerlichen Vorgang bezeichnete die Verwaltung zumeist mit verharmlosenden und euphemisierenden Termini wie „Evakuierung nach Osten“, „Aussiedlung“ oder dem auch heute noch in anderem Zusammenhang gebräuchlichen Begriff der „Abschiebung“.

Hinter diesen Chiffren verbarg sich nichts anderes als der arbeitsteilig und verwaltungsmäßig organisierte, heimtückische und grausame Mord an Frauen, Männern und Kindern durch „Vernichtung durch Arbeit“, Erschießung, Vergasung oder einfach Verhungernlassen in einem Lager oder Ghetto die sog. „Endlösung“, eine weitere Chiffre die die Lösung eines Problems suggerierte, welches die NS-Ideologie und deren Anhänger postuliert hatten der sog. „Judenfrage“.

Die Begleitumstände der Deportationen drängten auch in einem Staat, in dem der klassische Normenstaat und der neue Machtstaat eng miteinander verzahnt waren, auf eine rechtliche Gestaltung. Schließlich sollten die beschönigend als „Judenevakuierung“ bezeichneten Deportationen in Form eines standardisierten Massenverwaltungshandelns „effizient“ durch eine arbeitsteilig handelnde Bürokratie umgesetzt werden. Deren Akteure sollten mit zumindest dem Schein nach rechtmäßigen Handlungsermächtigungen ausgestattet werden, die sie nicht zuletzt auch von der Eigenverantwortlichkeit ihres Tuns entlasteten und dem mörderischen Tun den Schein von Legalität und Legitimität verleihen sollte.

So mag es kaum noch zu verwundern, dass die Deportationen auch rechtlich flankiert wurden. Dies geschah durch die 11. VO zum Reichsbürgergesetz, die am 25. November 1941 in Kraft trat. Die Beratungen über einen entsprechenden Verordnungsentwurf, mit der Juden im Exil oder auf dem Weg an das Deportationsziel, ipso iure die deutsche Staatsangehörigkeit und ihre letzten Vermögenswerte entzogen werden sollten, hatten bereits im Herbst 1940 im RMdI begonnen nachdem über 6000 Juden aus Baden und der Saarpfalz nach Frankreich abgeschoben worden waren. Die 11. VO legte dann in § 3 Abs. 2 auch fest, dass das dem Reich „verfallene“ Vermögen der nunmehr staatenlos gewordenen Juden zur „Förderung aller mit der Lösung der Judenfrage im Zusammenhang stehenden Zwecke“ dienen sollte.

Der Kreis der Mitwirkenden, der Mitwisser und Mittäter war groß: Außer Polizisten, Eisenbahnern und Finanzbeamten, denen das Reichsfinanzministerium im November 1941 dafür unter der Tarnbezeichnung „Aktion 3“ Anweisungen erteilte, waren zahlreiche weitere Personen mit der Deportation der Juden und Abwicklung ihres Vermögens beschäftigt: Banken erhielten Kopien der Transportlisten, um Sparguthaben restlos erfassen zu können. Schätzer, Auktionatoren und Spediteure wurden bei der Auflösung der Haushalte tätig. Vermieter, die später Mietausfälle für die versiegelten Wohnungen geltend machten oder Energieversorger die Nachforderungen hatten, machten diese bei der Finanzverwaltung geltend.

Ich finde, dass wir uns dies an einem solchen Tag ins Gedächtnis rufen müssen:

  • Die Deportationen und der Völkermord verliefen arbeitsteilig und in einem bürokratischen Rahmen wie er auch heute noch für Verwaltungshandeln notwendig und typisch ist.
  • Sie fanden statt vor den Augen der Mehrheitsgesellschaft, die dem Tun meist tatenlos teilweise sogar zustimmend zusah.

Dies sollten wir auch heute mitbedenken, wenn wir uns mit dem Handeln der Verwaltung in besonders grundrechtssensiblen Bereichen befassen etwa wenn es um Maßnahmen geht, die im Rahmen der Bewältigung der Flüchtlingskrise getroffen werden oder wenn wir darüber nachdenken, welche Rolle heute – unter ganz anderen Umständen – die Zivilgesellschaft übernehmen kann.

Unsere Geschichte, diese Geschichte, mahnt uns zu einem besonders sensiblen Handeln und zu einem genauen Hinschauen.

 

Dr. Hans-Christian Jasch
Direktor der Gedenk- und Bildungsstätte
Haus der Wannsee-Konferenz